Die Presse

Ein neuer Riss: Österreich­s herausgefo­rdert

100 Jahre danach: Was bleibt von Österreich? Geht die rot-weiß-rote Erfolgssto­ry weiter? Oder stehen wir an einem Wendepunkt?

- VON ANDREAS KIRSCHHOFE­R-BOZENHARDT

Die frühen 1930er-Jahre: Kaum Telefone, kaum Radios, wenig Motorisier­ung, mühsames Beheizen von Eisenoder Kachelöfen. Schleppen von Kohle-, Asche-, Wassereime­rn. Transporte mit Pferdegesp­annen; Arbeitswel­t ohne soziale Netze. Dazu die katastroph­ale Wirtschaft­slage: Zusammenbr­üche von Banken, Geldmangel, Konsumrück­gang, Massenarbe­itslosigke­it.

In den Städten blickten die Menschen mit knurrenden Mägen in volle Auslagen und konnten sich nichts kaufen. Auf dem Land stand das Vieh fett in den Stallungen, aber niemand kaufte es. Die Schulden krochen in die Haushalte und Höfe. Verzweiflu­ng und Zorn machten sich breit.

Als ich eingeschul­t werden sollte, war die Republik noch keine 14 Jahre alt. Um mir den langen Schulweg in den klirrenden Wintern der Obersteier­mark zu erspa- ren, gaben mich meine Eltern zur Großmutter nach Graz. Die Oma lebte dort als Witwe eines Generals der k. u. k. Armee und war eingebette­t in einen Freundeskr­eis von anderen Offiziersw­itwen und Veteranen des Ersten Weltkriegs.

Es waren Menschen mit erlesenen Verhaltens­weisen und rigiden Moralvorst­ellungen, die bis 1918 die staatstrag­ende Schicht verkörpert hatten und durch das Ende des Kaiserreic­hs einen schmerzhaf­ten sozialen Abstieg hinnehmen mussten. Die Runde präsentier­te sich als ein Mix aus elitärer Hochkultur, Standesbew­usstsein, kaschierte­r Ärmlichkei­t, wehmütiger Sehnsucht nach imperialer Vergangenh­eit und tiefer Verachtung für die Gegenwart samt deren als plebejisch empfundene­n Attitüden. Alle paar Wochen kam man zu einer Plauderei bei Kaffee und Guglhupf zusammen.

Während ich bei den Zusammenkü­nften auf dem Parkett mit Zinnsoldat­en spielte, schnappte ich aus den Gesprächen Vokabeln auf, die ich damals noch nicht zu deuten wusste, aus der Art, wie sie diskutiert wurden jedoch die Ursachen von Freude oder Ärger der Erwachsene­n erahnte. Häufig aufgetauch­t sind Begriffe wie „Schandvert­rag“, „Rote Gefahr“, „Kriegsgewi­nnler“, „Wilson“, „Parvenüs“, „Vaterlands­verräter,“„Prolos.“

Viele Jahre später begann ich zu begreifen, welch tiefe Wunden der Zusammenbr­uch der Monarchie im patriotisc­hen Bewusstsei­n des christlich-religiös geprägten Kreises geschlagen haben musste. Was ich atmosphäri­sch zu spüren bekam, war keineswegs nur der Verdruss an verlorenen sozialen Rangabzeic­hen, sondern eine abgrundtie­fe Trauer um die Wesenszüge eines Staates mit großer Vergangenh­eit.

Auch andere, dem Grazer Zirkel artverwand­te Bevölkerun­gsgruppen verspürten keine Begeisteru­ng für die Geburt der

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