Ein neuer Riss: Österreichs herausgefordert
100 Jahre danach: Was bleibt von Österreich? Geht die rot-weiß-rote Erfolgsstory weiter? Oder stehen wir an einem Wendepunkt?
Die frühen 1930er-Jahre: Kaum Telefone, kaum Radios, wenig Motorisierung, mühsames Beheizen von Eisenoder Kachelöfen. Schleppen von Kohle-, Asche-, Wassereimern. Transporte mit Pferdegespannen; Arbeitswelt ohne soziale Netze. Dazu die katastrophale Wirtschaftslage: Zusammenbrüche von Banken, Geldmangel, Konsumrückgang, Massenarbeitslosigkeit.
In den Städten blickten die Menschen mit knurrenden Mägen in volle Auslagen und konnten sich nichts kaufen. Auf dem Land stand das Vieh fett in den Stallungen, aber niemand kaufte es. Die Schulden krochen in die Haushalte und Höfe. Verzweiflung und Zorn machten sich breit.
Als ich eingeschult werden sollte, war die Republik noch keine 14 Jahre alt. Um mir den langen Schulweg in den klirrenden Wintern der Obersteiermark zu erspa- ren, gaben mich meine Eltern zur Großmutter nach Graz. Die Oma lebte dort als Witwe eines Generals der k. u. k. Armee und war eingebettet in einen Freundeskreis von anderen Offizierswitwen und Veteranen des Ersten Weltkriegs.
Es waren Menschen mit erlesenen Verhaltensweisen und rigiden Moralvorstellungen, die bis 1918 die staatstragende Schicht verkörpert hatten und durch das Ende des Kaiserreichs einen schmerzhaften sozialen Abstieg hinnehmen mussten. Die Runde präsentierte sich als ein Mix aus elitärer Hochkultur, Standesbewusstsein, kaschierter Ärmlichkeit, wehmütiger Sehnsucht nach imperialer Vergangenheit und tiefer Verachtung für die Gegenwart samt deren als plebejisch empfundenen Attitüden. Alle paar Wochen kam man zu einer Plauderei bei Kaffee und Guglhupf zusammen.
Während ich bei den Zusammenkünften auf dem Parkett mit Zinnsoldaten spielte, schnappte ich aus den Gesprächen Vokabeln auf, die ich damals noch nicht zu deuten wusste, aus der Art, wie sie diskutiert wurden jedoch die Ursachen von Freude oder Ärger der Erwachsenen erahnte. Häufig aufgetaucht sind Begriffe wie „Schandvertrag“, „Rote Gefahr“, „Kriegsgewinnler“, „Wilson“, „Parvenüs“, „Vaterlandsverräter,“„Prolos.“
Viele Jahre später begann ich zu begreifen, welch tiefe Wunden der Zusammenbruch der Monarchie im patriotischen Bewusstsein des christlich-religiös geprägten Kreises geschlagen haben musste. Was ich atmosphärisch zu spüren bekam, war keineswegs nur der Verdruss an verlorenen sozialen Rangabzeichen, sondern eine abgrundtiefe Trauer um die Wesenszüge eines Staates mit großer Vergangenheit.
Auch andere, dem Grazer Zirkel artverwandte Bevölkerungsgruppen verspürten keine Begeisterung für die Geburt der