Das Ende keiner großen Liebe
Die Briten und die EU. Über mehr als 40 Jahre ist ein dichtest verwobenes rechtliches und politisches Verhältnis entstanden, dessen Auflösung beiderseits des Ärmelkanals tiefe Narben hinterlassen wird.
67,2 Prozent: So einen Rückhalt sollte Europa im britischen Volk nie wieder haben. Mit dieser Zwei-Drittel-Mehrheit hatte es am 5. Juni 1975 dafür gestimmt, Mitglied in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu bleiben, aus der im Lauf der Jahrzehnte die heutige EU wurde. Zwei Jahre erst war man zu diesem Zeitpunkt dabei gewesen, nach dem Wahlsieg der Labourpartei unter Harold Wilson drang man auf bessere Mitgliedsbedingungen. Die anderen Mitglieder stimmten zu, unter der Führung des französischen Präsidenten Valerie´ Giscard d’Estaing. Sie erlaubten mehr Zuckerimporte aus den früheren karibischen Kolonien, mehr Butter aus Neuseeland, eine Erleichterung beim Budgetbeitrag.
Eine pragmatische Lösung für ein sachpolitisches Problem. Und doch gaben die Debatten rund um dieses erste Brexit-Referendum einen Vorgeschmack darauf, wie schwierig das Verhältnis zwischen dem Vereinigten Königreich und Europa sich fürderhin gestalten sollte. „Vielleicht hatte der verstorbene Lord Attlee recht, als er sagte, dass das Referendum ein Werkzeug von Diktatoren und Demagogen sei“, sagte die junge Oppositionsführerin der Konservativen bei der Parlamentsdebatte am 11. März 1975. Sie war nicht nur gegen eine Volksabstimmung, sie war auch klar für die Mitgliedschaft in der EWG, diese Margaret Thatcher, die in der Verklärung der heutigen BrexitAnhänger bloß als eiserne Gegnerin Brüssels aufscheint. Wie sprach sie damals, 1975, in Westminster? „Ich kenne kein Land in der westlichen Welt, in dem eine Volksabstimmung dazu benutzt wurde, um eine Vertragsverpflichtung zu übertrumpfen, die durch all ihre parlamentarischen Stadien gegangen ist und seit zwei Jahren in Kraft ist. So ein Schritt hätte eine schädliche Auswirkung auf die britische Stellung in der Welt.“
Diesen Schaden haben die Briten nun, mit 43 Jahren Verspätung, auszubaden. Denn egal, ob der Entwurf eines Austrittsabkommens eine Mehrheit im britischen Parlament findet oder dort abgelehnt wird: Das Ende der britischen Mitgliedschaft in der europäischen Nachkriegsordnung wird beiderseits tiefe Wunden schlagen.
Auf rein prosaischer Ebene ist die rechtliche Verflechtung nach fast einem halben Jahrhundert so dicht, dass es selbst im derzeit ungewissen Fall einer Annahme des Austrittsabkommens lang dauern und große Mühen erfordern wird, ein tadellos funktionierendes Nachfolgesystem für das bilaterale Verhältnis zu erarbeiten. Schon im Oktober 2016 warnte der damalige britische EUBotschafter Sir Ivan Rogers das Kabinett von Premierministerin Theresa May: Die Verhandlung eines neuen Handelsabkommens mit den Europäern dürfte frühestens Mitte der 2020er-Jahre fertig sein.
Schwierige Zeiten für Marktliberale
Auch politisch wird der Brexit das europäische Spielfeld erschüttern. Die Union wird künftig nur mehr ein ständiges Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nation stellen und nur mehr eine nuklear bewaffnete Streitkraft, jene Frankreichs. Ebenso wird der britische Abschied weltanschauliche Verwerfungen erzeugen. Im Februar formierte sich die „Neue Hanse“. Die Niederlande, Dänemark, Estland, Finnland, Irland, Lettland, Litauen, Schweden sowie seit vorletzter Woche die Slowakei und Tschechien wollen so wirtschaftsliberale, freihandelsfreundliche Positionen verteidigen. Bisher konnten sie sich im Windschatten Londons verstecken. Nun müssen die marktaffinen Freihändler selbst danach trachten, im Rat ein Gegengewicht zum wachsenden Einfluss protektionistisch geneigter Mittelmeerstaaten unter Frankreichs Führung zu schaffen.
Gewiss: Mit dem Ende der 1980er-Jahre beschleunigten Integrationszug hatten die Briten keine Freude. Doch stets fand man sachliche Lösungen für Londons Sonderwünsche, etwa 1992 die beiden Ausnahmen aus dem Maastricht-Vertrag, kraft derer London weder an Währungsunion noch an Vereinheitlichung von Arbeitsplatzregeln und Gewerkschaftsrechten teilnehmen muss.
Doch selbst diese Vernunftehe endet nun, und das womöglich in einem Rosenkrieg. „Ich kann nur vor einem Hard Brexit warnen“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz am Freitag in Brüssel im Gespräch mit EU-Korrespondenten. „Wer damit liebäugelt“, müsse sich darauf gefasst machen, „dass das beiden Seiten schaden würde – aber ganz besonders Großbritannien“.