Der Anfang vom Endspiel der Operntradition?
Mailänder Scala. Intendant Alexander Pereira glaubte daran, dass György Kurtag,´ Doyen der internationalen Komponistenszene, seinen Opernplan realisieren würde, und sicherte seinem Haus damit die Uraufführung von „Fin de partie“.
Das sind Abende wie ein Begleitprogramm zu einem Musikkritikerkongress. Die Uraufführung einer zeitgenössischen Oper interessiert ja, Hand aufs Herz, vor allem Vertreter der Medien und Intendanten. Diese versichern einander gegenseitig regelmäßig, dass die Zukunft der Gattung Oper nur durch neue Werke aufrechtzuerhalten sei. Das Publikum sieht das bekanntlich ein wenig anders.
Wie auch immer: Wenn ein berühmter Komponist etwas für das Musiktheater schreibt, provoziert das Interesse, zumal, wenn es sich um György Kurtag´ handelt, der in seinem Schaffen bis dato eher an Bela´ Bartoks´ Mikrokosmos Maß genommen hat. Der Meister der prägnanten Klangnotizen und der Makrokosmos der Oper?
Die Spannungsdichte, die diese Frage evoziert, nimmt freilich gleich wieder ab, wenn man hört, welches Sujet der Komponist gewählt hat. Samuel Becketts „Endspiel“, noch dazu stückgetreu inszeniert von Pierre Audi in Dekors und Kostümen von Christof Hetzer, die sich genau an der Textvorgabe orientieren – da tut sich nichts.
Und das programmgemäß: Ein Mann im Rollstuhl, sein nicht viel beweglicherer Diener und die Eltern des Mannes in Mülltonnen – sie räsonieren über ihr Vegetieren in der Existenzfalle. Rundum kein Leben mehr, ist man aneinandergefesselt, sogar dann noch, wenn man beschließt, nichts mehr voneinander wissen zu wollen.
Becketts abstraktes Theater, das viele Deutungen zulässt, oder gar keine, harmoniert freilich mit Kurtags´ Musik, die alle möglichen Geschichten erzählen oder als beziehungsloses Puzzle kleinteiliger Klangspiele gehört werden kann: Sind das nur Glissandi der Kontrabässe, illustrieren sie das Gähnen eines der Protagonisten? Eine der Grundvoraussetzungen klassischer Operndramaturgie, dass die Musik die Hörer überrumpelnd auf Abenteuerreise mitnimmt, entfällt in diesem Fall quasi von Grund auf.
Entsprechend ratlos schienen einige Besucher der Uraufführung dieser „Szenen und Monologe“aus Becketts „Fin de partie“an der Mailänder Scala. Intendant Alexander Pereira, einer der wenigen Kenner, die jahrelang geduldig darauf vertraut haben, dass aus Kurtags´ Opernplan tatsächlich etwas wird, hat sich das Ius primae noctis gesichert. Die Opernwelt kam, sah und lauschte einem zweistündigen, pausenlosen Klangtheater, in dem Kurtag´ (beziehungsweise sein Dirigent Markus Stenz) ein breit gefächertes Instrumentalensemble zu immer neuen flüsternden, raunenden, sanft gleitenden Farbspielen animierte. Skizzenhafte Erinnerungen an einst Gehörtes, Klassisches, Romantisches, Banales, Hochauffliegendes erklang da, fragmentiert, eingekocht auf die Essenz.
Die zur Untätigkeit verdammten Darsteller singen ebenso reduziert, aber in Momenten doch deutlich noch an Sopran-, Tenor- oder Baritoncharaktere erinnernd. Vater und Mutter (Leonardo Cortellazzi, Hilary Summers) deren Interaktion sich längst auf kurze Handreichungen reduziert hat, erinnern sich und die Hörer lyrisch beseelt sogar an einstige Liebesduetträusche. Auch diese verwehen ebenso rasch wie die Assoziationen an Strophen- und Variationsformen, die Becketts Text immerhin vorgibt. Kurtag´ nutzt sie zuweilen zu Ahnungen ausgreifender Formen, im liedartigen Final-Statement des Dieners (Leigh Melrose) wie im großen Monolog des Hamm (Frode Olsen), den der Komponist häufig in undankbar tief liegende Regionen führt, wo eher Fagott und Tuba als die Singstimme tonangebend wirken.
66 Prozent des französischsprachigen Theatertextes hat György Kurtag´ in Musik gesetzt, den Rest möchte er sich noch vornehmen. Dann könnte sein Werk an die vier Stunden dauern und zu einer Art Endzeitvision der Operngattung werden. Vielleicht wird man dafür eine Art Opernmausoleum bauen, in dem man nur noch „Fin de partie“spielt, zum Gedenken an eine vergangene Kulturleistung der Menschheit.
Oder es bewahrheitet sich, dass die Opernmuseen weltweit noch lang „La Bo- h`eme“aufführen. Es könnte sein, dass „Fin de partie“dann nicht mehr gespielt wird . . .
Abends zuvor konnten Zaungäste an der Scala übrigens Ricarda Merbeth hören, die dort vor Kurzem ihr Rollendebüt in der Titelpartie von Richard Strauss’ „Elektra“gab und (wie schon mit ihrer „Fidelio“-Leonore) ein staunenerregendes Beispiel für ihre souveräne technische Sicherheit in allen Lebens- und Gefahrenlagen eines Soprans demonstrierte. Die Stimme klingt nicht nur im Dialog mit Waltraud Meiers weltreisender Klytämnestra in der ebenfalls weltreisenden, schon reichlich abgespielten Chereau-´Inszenierung jugendfrisch wortdeutlich; auch an der Seite der schlankstimmigen Schwester Chrysothemis Regine Hanglers und in den Momenten äußerster emotionaler Anspannung (etwa in der Erkennungsszene mit Michael Volles wohltönendem Orest).
Wer diese Elektra (ohne Kürzungen!) hört, kommt keinen Moment lang auf den Gedanken, hier könnte es sich um eine der gefürchtetsten Partien des hochdramatischen Fachs handeln!