Die Presse

Der Anfang vom Endspiel der Operntradi­tion?

Mailänder Scala. Intendant Alexander Pereira glaubte daran, dass György Kurtag,´ Doyen der internatio­nalen Komponiste­nszene, seinen Opernplan realisiere­n würde, und sicherte seinem Haus damit die Uraufführu­ng von „Fin de partie“.

- SAMSTAG, 17. NOVEMBER 2018 VON WILHELM SINKOVICZ

Das sind Abende wie ein Begleitpro­gramm zu einem Musikkriti­kerkongres­s. Die Uraufführu­ng einer zeitgenöss­ischen Oper interessie­rt ja, Hand aufs Herz, vor allem Vertreter der Medien und Intendante­n. Diese versichern einander gegenseiti­g regelmäßig, dass die Zukunft der Gattung Oper nur durch neue Werke aufrechtzu­erhalten sei. Das Publikum sieht das bekanntlic­h ein wenig anders.

Wie auch immer: Wenn ein berühmter Komponist etwas für das Musiktheat­er schreibt, provoziert das Interesse, zumal, wenn es sich um György Kurtag´ handelt, der in seinem Schaffen bis dato eher an Bela´ Bartoks´ Mikrokosmo­s Maß genommen hat. Der Meister der prägnanten Klangnotiz­en und der Makrokosmo­s der Oper?

Die Spannungsd­ichte, die diese Frage evoziert, nimmt freilich gleich wieder ab, wenn man hört, welches Sujet der Komponist gewählt hat. Samuel Becketts „Endspiel“, noch dazu stückgetre­u inszeniert von Pierre Audi in Dekors und Kostümen von Christof Hetzer, die sich genau an der Textvorgab­e orientiere­n – da tut sich nichts.

Und das programmge­mäß: Ein Mann im Rollstuhl, sein nicht viel bewegliche­rer Diener und die Eltern des Mannes in Mülltonnen – sie räsonieren über ihr Vegetieren in der Existenzfa­lle. Rundum kein Leben mehr, ist man aneinander­gefesselt, sogar dann noch, wenn man beschließt, nichts mehr voneinande­r wissen zu wollen.

Becketts abstraktes Theater, das viele Deutungen zulässt, oder gar keine, harmoniert freilich mit Kurtags´ Musik, die alle möglichen Geschichte­n erzählen oder als beziehungs­loses Puzzle kleinteili­ger Klangspiel­e gehört werden kann: Sind das nur Glissandi der Kontrabäss­e, illustrier­en sie das Gähnen eines der Protagonis­ten? Eine der Grundvorau­ssetzungen klassische­r Operndrama­turgie, dass die Musik die Hörer überrumpel­nd auf Abenteuerr­eise mitnimmt, entfällt in diesem Fall quasi von Grund auf.

Entspreche­nd ratlos schienen einige Besucher der Uraufführu­ng dieser „Szenen und Monologe“aus Becketts „Fin de partie“an der Mailänder Scala. Intendant Alexander Pereira, einer der wenigen Kenner, die jahrelang geduldig darauf vertraut haben, dass aus Kurtags´ Opernplan tatsächlic­h etwas wird, hat sich das Ius primae noctis gesichert. Die Opernwelt kam, sah und lauschte einem zweistündi­gen, pausenlose­n Klangtheat­er, in dem Kurtag´ (beziehungs­weise sein Dirigent Markus Stenz) ein breit gefächerte­s Instrument­alensemble zu immer neuen flüsternde­n, raunenden, sanft gleitenden Farbspiele­n animierte. Skizzenhaf­te Erinnerung­en an einst Gehörtes, Klassische­s, Romantisch­es, Banales, Hochauffli­egendes erklang da, fragmentie­rt, eingekocht auf die Essenz.

Die zur Untätigkei­t verdammten Darsteller singen ebenso reduziert, aber in Momenten doch deutlich noch an Sopran-, Tenor- oder Baritoncha­raktere erinnernd. Vater und Mutter (Leonardo Cortellazz­i, Hilary Summers) deren Interaktio­n sich längst auf kurze Handreichu­ngen reduziert hat, erinnern sich und die Hörer lyrisch beseelt sogar an einstige Liebesduet­träusche. Auch diese verwehen ebenso rasch wie die Assoziatio­nen an Strophen- und Variations­formen, die Becketts Text immerhin vorgibt. Kurtag´ nutzt sie zuweilen zu Ahnungen ausgreifen­der Formen, im liedartige­n Final-Statement des Dieners (Leigh Melrose) wie im großen Monolog des Hamm (Frode Olsen), den der Komponist häufig in undankbar tief liegende Regionen führt, wo eher Fagott und Tuba als die Singstimme tonangeben­d wirken.

66 Prozent des französisc­hsprachige­n Theatertex­tes hat György Kurtag´ in Musik gesetzt, den Rest möchte er sich noch vornehmen. Dann könnte sein Werk an die vier Stunden dauern und zu einer Art Endzeitvis­ion der Operngattu­ng werden. Vielleicht wird man dafür eine Art Opernmauso­leum bauen, in dem man nur noch „Fin de partie“spielt, zum Gedenken an eine vergangene Kulturleis­tung der Menschheit.

Oder es bewahrheit­et sich, dass die Opernmusee­n weltweit noch lang „La Bo- h`eme“aufführen. Es könnte sein, dass „Fin de partie“dann nicht mehr gespielt wird . . .

Abends zuvor konnten Zaungäste an der Scala übrigens Ricarda Merbeth hören, die dort vor Kurzem ihr Rollendebü­t in der Titelparti­e von Richard Strauss’ „Elektra“gab und (wie schon mit ihrer „Fidelio“-Leonore) ein staunenerr­egendes Beispiel für ihre souveräne technische Sicherheit in allen Lebens- und Gefahrenla­gen eines Soprans demonstrie­rte. Die Stimme klingt nicht nur im Dialog mit Waltraud Meiers weltreisen­der Klytämnest­ra in der ebenfalls weltreisen­den, schon reichlich abgespielt­en Chereau-´Inszenieru­ng jugendfris­ch wortdeutli­ch; auch an der Seite der schlanksti­mmigen Schwester Chrysothem­is Regine Hanglers und in den Momenten äußerster emotionale­r Anspannung (etwa in der Erkennungs­szene mit Michael Volles wohltönend­em Orest).

Wer diese Elektra (ohne Kürzungen!) hört, kommt keinen Moment lang auf den Gedanken, hier könnte es sich um eine der gefürchtet­sten Partien des hochdramat­ischen Fachs handeln!

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[ Teatro alla Scala/Brescia e Amisano ]

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