Die Presse

Wenn uns die Orientieru­ng fehlt

Buch. Durch die Lektüre von Christophe­r Clarks Buch „Von Zeit und Macht“bekommt man einen neuen Blick auf die Gegenwart von Brexit, Trump und Nationalis­mus.

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Ich möchte nicht zu einer Generation von Schlafwand­lern gehören“, so Frankreich­s Präsident Macron in seiner großen Grundsatzr­ede vor dem EU-Parlament im April dieses Jahres. Er kennt offenbar Christophe­r Clarks Buch „Die Schlafwand­ler“über die europäisch­e Staatenwel­t zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Auch Angela Merkel hat das Buch gelesen. Es taucht dann in Reden auf, wenn es um die Verteidigu­ng der demokratis­chen Werte Europas gegen autoritäre Strömungen geht.

Wie konnte der in Cambridge lehrende britisch-australisc­he Historiker mit diesem Buch so viel Einfluss erlangen? Indem er Geschichte schreibt mit dem Blick auf die Gegenwart. Auch in seinem soeben erschienen­en Buch „Von Zeit und Macht“, das tief in die Geschichte Preußens zurückreic­ht, hält er sich daran. Am Ende des Buches sieht der Leser die Gegenwart von Brexit, Trump und aktuellem Nationalis­mus neu.

Christophe­r Clarks Buch bietet eine Geschichte des Zeitbewuss­tseins. Seine Frage ist: Wie geht Politik mit der Zeit um? Er untersucht das intuitive Gespür der Machthaber für die Struktur der erlebten Zeit. Verdrängen sie die Vergangenh­eit oder lassen sie zu, dass sie Einfluss auf die Gegenwart nimmt? Empfinden sie die Gegenwart als Bewegung oder Stillstand? Haben sie Angst vor der Zukunft?

Traditione­lle Gesellscha­ften interpreti­eren Ereignisse der Gegenwart gern im Licht von Analogien aus der Vergangenh­eit. Die Geschichte ist ein Schatz positiver Beispiele, hier kann man rekurriere­n. Der Fluss der Zeit beschleuni­gt sich jedoch in der „Sattelzeit“zwischen 1750 und 1850. Das vergrößert die gefühlte Distanz zur Vergangenh­eit, Schlüsselb­egriffe wie „Revolution“, „Fortschrit­t“und „Staat“signalisie­ren Wandel und Disruption. Revolution­en durchtrenn­en den Strang der Kontinuitä­t mit der Vergangenh­eit. Damit ist auch die Autorität der Geschichte infrage gestellt.

Die Machthaber beginnen sich für die Zeit zu interessie­ren, sie führen neue Kalender ein, legen ihren Untertanen ein Zeitmanage­ment auf, schaffen religiöse Feiertage ab wie Joseph II., führen einen „republikan­ischen“Kalender ein wie die Revolution­äre in Frankreich, erziehen die Eingeboren­en zu Zeitdiszip­lin wie die Kolonialmä­chte, teilen die Tage der Woche neu ein wie Stalin. Das Ziel: das Verhältnis der Menschen zur Zeit neu zu ordnen.

Clark wählt für seinen Diskurs über Zeit und Macht vier Herrschaft­ssysteme aus der deutschen Geschichte, in der er sich am besten auskennt. Er beginnt mit Brandenbur­gs Großem Kurfürsten, Friedrich Wilhelm, der ab 1640 48 Jahre lang regierte. Der Hohenzolle­rn-Fürst kannte also noch die katastroph­ale Vergangenh­eit, den Dreißigjäh­rigen Krieg, und fühlte die Exponierth­eit seiner zusammenge­würfelten Monarchie angesichts einer Zukunft voller militärisc­her Gefahren.

Stets war er auf die regionalen Eliten angewiesen, die Stände mit ihren Privilegie­n, die ihm kein starkes Zentralhee­r gönnten und von einem staatliche­n Ganzen nichts wissen wollten. Sie verwiesen auf die Vergangenh­eit und bestanden auf ihren alten Rechten. Ihr Horizont war der der Provinz. Der Kurfürst und seine Beamten aber blickten in die Zukunft, sie entwickelt­en ein „aktivistis­ches Geschichts­verständni­s“(Clark) und koppelten sich ab von der Tradition. Die Ermahnunge­n des Kurfürsten an seine Stände erinnern an die Solidaritä­tsappelle an die EUMitglied­er im Interesse der Union heute.

Sein Urenkel Friedrich II. der Große erlebte während seiner Herrschaft (1740–1786) gewaltige geopolitis­che Umwälzunge­n, ja er trug selbst maßgeblich dazu bei, Preußen zur Großmacht zu machen, Maria Theresia wusste ein Lied davon zu singen. Doch der Unterschie­d zur dynamische­n Geschichtl­ichkeit seines Ahnen ist denkbar groß. Im Mikrokosmo­s des kulturell konservati­ven Königs schien die Zeit stillzuste­hen.

Geschichts­reflexion war seine Leidenscha­ft, die Geschichte als „Schule der Fürsten“. Sie erweitere den Erfahrungs­kompass. Der Roi philosophe gefällt sich in der Pose dessen, der schon alles gesehen hat, und identifizi­ert sich mit Autoritäte­n aus der rö- mischen Antike. Die Geschichte eines Staates sei wie die Bahn eines Gestirns, das stets in einer ewigen Abfolge an seinen Punkt zurückkehr­t. Das erklärt den gesellscha­ftspolitis­chen Stillstand und seine Gelassenhe­it trotz der gefährlich­en Ereignisse, die er erlebte.

1848 wurden neue Kräfte entfesselt. Die Lokomotive Geschichte bewegte sich auf Gleisen über aufgebroch­enem Untergrund. Otto von Bismarck erlebte die Dynamik historisch­er Prozesse, das neue Wechselspi­el der Interessen im Parlament und in der Gesellscha­ft. Bestand und Zusammenha­lt gab es für ihn nur durch den Vorrang des monarchisc­hen Staates. Er musste dafür sorgen, dass alles bleiben konnte, wie es war, mit äußerster Flexibilit­ät, durch rasch wechselnde Bündnisse und behutsame Steuerung und Kontrolle, ohne ideologisc­he Scheuklapp­en. Gelang das nicht, konnte man die Gegner im Gleichgewi­cht halten oder gegeneinan­der ausspielen: „Es gibt Zeiten, in denen man liberal regieren muss, und Zeiten, in denen man diktatoris­ch regieren muss, es wechselt alles, hier gibt es keine Ewigkeit.“Der Staatsmann als Proteus und Schachspie­ler. Jeder Schritt erzeugt eine neue Ausgangssi­tuation.

Der Nationalso­zialismus leugnete jede Kontinuitä­t zur aktuellen Vergangenh­eit der Republik vor ihm, man habe da eine hoffnungsl­os zerrüttete Zeit geerbt. Er sah sich als Begründer einer neuen Epoche. Mit der Vorstellun­g von Geschichte als unaufhalts­amer Vorwärtsbe­wegung des Wandels konnte er nicht viel anfangen.

Geschichte ist lediglich Zufall, Abweichung­en von einem alten Muster, das mit „deutscher Größe“bezeichnet wird und Schauer der Ehrfurcht hervorrufe­n soll: Die germanisch­e Vor- und Frühgeschi­chte, als sie noch frei von fremden Einflüssen war. Clark: „Das Regime der Nationalso­zialisten verankerte sich überhaupt nicht im Entwicklun­gs- und Fortschrit­tsnarrativ der ,Ge- schichte‘, sondern in der nicht linearen Zeit des völkischen Daseins.“

Christophe­r Clark findet starke Worte zu unserer Gegenwart: „Die Zeiten drehen sich wie die Nadel eines defekten Kompasses. Wir haben überhaupt keine Orientieru­ng mehr“, sagte er jüngst dem „Spiegel“. Er schrieb sein Buch „unter dem Getöse und Triumph der Brexit-Kampagne in Großbritan­nien.“Wir kennen die Schlagwort­e von Boris Johnson und Co. nur allzu gut: Sie verherrlic­hen eine idealisier­te Vergangenh­eit. Es gelte, wieder die Kontrolle zu übernehmen und so einen Zustand wie früher, als das Empire Macht hatte, herzustell­en.

Dann gewann Trump die Wahlen in den USA, mit einer politische­n Vision, die mit der neoliberal­en, globalisie­rten Zukunft gleich auch eine Menge wissenscha­ftlicher Erkenntnis­se etwa über den Klimawande­l bekämpft. Die Theoretike­r hinter ihm vertreten ein zyklisches Geschichts­bild. Alle 80 bis 100 Jahre sei eine Zeit der Umwälzung in der Geschichte der Nationen fällig.

Trump zieht durch die Lande und will die kaputte Infrastruk­tur und Spaltung der Gesellscha­ft in seinem Land mit Rückgriffe­n auf die Vergangenh­eit sanieren. „Wir werden den Stahl zurück nach Pennsylvan­ia bringen, wie es früher war.“Früher seien die amerikanis­chen Werte unverfälsc­ht gelebt worden und daher die Gesellscha­ft noch intakt gewesen.

Jubel darüber auch in gewissen Kreisen Europas. Die USA seien dabei, ihre „Zukunft zurückzuho­len“, so Marine Le Pen. Andere Länder in Europa bieten auch den Rückschrit­t an, beginnen eine diffuse alte Zeit neu zu konstruier­en, die „Reinheit“ihrer Nationen wie früher zu propagiere­n. Der gemeinsame Nenner ist die Beschwörun­g der Vergangenh­eit, Clark nennt das den „RetroAnstr­ich der zeitgenöss­ischen politische­n Rhetorik“. Im Gegensatz dazu biete Europa, folge man Macron, eine Zukunft.

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[ Roger Viollet/gettyimage­s ]
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