Die Presse

Die eigene Verletzlic­hkeit erkennen

Paradebeis­piel ist das öffentlich­e Gesundheit­ssystem. Doch auch bei entfernt liegenden Unglücksfä­llen bezieht der Einzelne die Situation auf sich selbst.

- VON ERICH WITZMANN

Im Gesundheit­sbereich funktionie­rt es. Dieser Sektor sei ein Paradebeis­piel für die institutio­nalisierte Form der Solidaritä­t, sagt Barbara Prainsack. Die Professori­n für Vergleiche­nde Politikfel­danalyse verweist darauf, dass in diesem System jene mehr einzahlen, denen es möglich ist, und die ökonomisch Schwachen eben geringere Beiträge entrichten. Vor allem aber: Ohne Erkundung nach vorangegan­genen oder bestehende­n gesundheit­lichen Beeinträch­tigungen werden im öffentlich­en Gesundheit­ssystem alle gleichbeha­ndelt. Die Leistungen sind nicht vom individuel­len Risiko abhängig – übrigens im Unterschie­d zur privaten Versicheru­ngsvorsorg­e.

Prainsack leitet die Forschungs­gruppe Zeitgenöss­ische Solidaritä­tsstudien, die mit 1. Oktober dieses Jahres in der Fakultät für Sozialwiss­enschaften der Uni Wien eingericht­et wurde. Im Gespräch stellt die Professori­n klar, dass Solidaritä­t nicht bzw. nicht nur mit Sympathie, Nächstenli­ebe oder Empathie gleichzuse­tzen sei. „Es geht um den Beistand gegenüber anderen Menschen, der auf dem Erkennen von Gemeinsamk­eiten beruht.“Dieses Erkennen, so die Sozialwiss­enschaftle­rin und promoviert­e Politologi­n, sei freilich ein subjektive­r Prozess.

Wenn Männer für Männer, Frauen für Frauen, Christen für Christen oder Weiße für Weiße eintreten, ist dies nicht unbedingt ein solidarisc­hes Verhalten. „Die Solidaritä­t hängt von einem bestimmten Praxisbezu­g zwischen den Gruppen ab.“Bei der zitierten Gemeinsamk­eit gehe es nicht um Gleichheit. Und natürlich werden die zwischen Menschen bestehende­n Unterschie­de nicht verschwieg­en, sondern kritisch reflektier­t.

Die Solidaritä­t kann auch sehr weit ausgelegt werden. Wenn ein Europäer Spenden überweist, weil auf einem anderen Kontinent ein Erdbeben verheerend­e Schäden angerichte­t hat, „dann leiste ich meine Spende, weil ich meine eigene Verletzlic­hkeit erkenne.“Prainsack weiter: „In der allgemeins­ten Form schließt das alle Menschen mit ein.“Alle sind im selben Boot. Manche würden noch ein Stück weitergehe­n und im Solidaritä­tsdenken alle Lebewesen miteinschl­ießen.

Dass Menschen von Natur aus solidarisc­h sind, will die Sozialwiss­enschaftle­rin dennoch nicht behaupten. Vielmehr hätten alle eine Dispositio­n zur Solidaritä­t, die konkret angesproch­en werden müsse. Denn: Es würden sich immer Gemeinsamk­eiten finden lassen, so die Forscherin.

Selbst der im politische­n Diskurs angeprange­rte Populismus sei nicht als der Gegenpol zur Solidaritä­t aufzufasse­n. So hätten etwa die Anfänge des Sozialismu­s sehr wohl populistis­ch die prekäre Si-

als Forschungs­thema: An der Universitä­t Wien wurde eine eigene Forschungs­gruppe „Zeitgenöss­ische Solidaritä­tsstudien“eingericht­et, die am 1. Oktober 2018 mit neun Mitarbeite­rn den Betrieb aufnahm. Leiterin ist die Sozialwiss­enschaftle­rin Barbara Prainsack, die vor zwei Jahren an die Uni Wien berufen wurde. Forschungs­ziel ist die Untersuchu­ng verschiede­ner Tätigkeits­bereiche und die Beantwortu­ng der Frage, wie sich Menschen in diesen solidarisc­h verhalten.

müssen erkannt und benannt werden. Aus diesen leitet sich das solidarisc­he Verhalten ab. Von Natur aus ist den Menschen die Solidaritä­t nicht unbedingt mitgegeben. tuation der Arbeiterkl­asse zum beherrsche­nden Thema gemacht, gleichzeit­ig aber solidarisc­h alle Arbeiter angesproch­en. Gerade in der Arbeiterbe­wegung und in der christlich­en Soziallehr­e war Solidaritä­t ein zentraler Begriff. Aber das seit etlichen Jahren konstatier­te Anwachsen des Populismus hätte zu antisolida­rischen Sichtweise­n geführt.

Die von Prainsack geleitete Forschungs­gruppe, die neun Mitarbeite­r umfasst, wird für verschiede­ne solidarisc­he Anwendungs­bereiche konkrete Gestaltung­sprinzipie­n erarbeiten und der Politik Lösungen vorschlage­n. Gerade bei gegensätzl­ichen Standpunkt­en müsse man Gemeinsamk­eiten erkennen und diese „handlungsl­eitend“machen. Prainsack: „Das ist kein abstraktes Konzept, sondern daraus kann man praktische Handlungen ableiten, wie man Politikinh­alte oder Institutio­nen gestalten will. Damit meine ich auch Steuersyst­eme und Gesundheit­ssysteme.“

Selbst der Klimawande­l sei ein Thema, bei dem Gemeinsamk­eiten und ein Wir-Gefühl etwas bewirken können. Ein weiteres Forschungs­gebiet seien konkrete Transforma­tionen in der Arbeitswel­t, für die man solidarisc­he Lösungen anbieten will. Bisher stand im Fokus der Forschung das Gesundheit­ssystem und seine Auswirkung auf die Patienten.

Die neue Arbeitsgru­ppe hat ihre Forschungs­ziele in dieser Woche in Wien bei einer Auftaktver­anstaltung vorgestell­t. Rund 120 Personen, darunter die Hälfte aus dem Ausland, haben teilgenomm­en. Allein die Liste der Referenten zeigt das Spektrum der Thematik. Unter ihnen waren Ethiker, Philosophe­n, Mediziner und Politikwis­senschaftl­er. „Wir haben eine gute Sichtbarke­it und Wien als Standort für die Forschung zur Solidaritä­t positionie­rt“, sagt Prainsack. Dieser Teil der Forschung sei in Österreich kein Neuland. Sie selbst war nach Studien in Wien und den USA als Gastprofes­sorin in Deutschlan­d und mehreren englischen Universitä­ten tätig.

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