Die eigene Verletzlichkeit erkennen
Paradebeispiel ist das öffentliche Gesundheitssystem. Doch auch bei entfernt liegenden Unglücksfällen bezieht der Einzelne die Situation auf sich selbst.
Im Gesundheitsbereich funktioniert es. Dieser Sektor sei ein Paradebeispiel für die institutionalisierte Form der Solidarität, sagt Barbara Prainsack. Die Professorin für Vergleichende Politikfeldanalyse verweist darauf, dass in diesem System jene mehr einzahlen, denen es möglich ist, und die ökonomisch Schwachen eben geringere Beiträge entrichten. Vor allem aber: Ohne Erkundung nach vorangegangenen oder bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen werden im öffentlichen Gesundheitssystem alle gleichbehandelt. Die Leistungen sind nicht vom individuellen Risiko abhängig – übrigens im Unterschied zur privaten Versicherungsvorsorge.
Prainsack leitet die Forschungsgruppe Zeitgenössische Solidaritätsstudien, die mit 1. Oktober dieses Jahres in der Fakultät für Sozialwissenschaften der Uni Wien eingerichtet wurde. Im Gespräch stellt die Professorin klar, dass Solidarität nicht bzw. nicht nur mit Sympathie, Nächstenliebe oder Empathie gleichzusetzen sei. „Es geht um den Beistand gegenüber anderen Menschen, der auf dem Erkennen von Gemeinsamkeiten beruht.“Dieses Erkennen, so die Sozialwissenschaftlerin und promovierte Politologin, sei freilich ein subjektiver Prozess.
Wenn Männer für Männer, Frauen für Frauen, Christen für Christen oder Weiße für Weiße eintreten, ist dies nicht unbedingt ein solidarisches Verhalten. „Die Solidarität hängt von einem bestimmten Praxisbezug zwischen den Gruppen ab.“Bei der zitierten Gemeinsamkeit gehe es nicht um Gleichheit. Und natürlich werden die zwischen Menschen bestehenden Unterschiede nicht verschwiegen, sondern kritisch reflektiert.
Die Solidarität kann auch sehr weit ausgelegt werden. Wenn ein Europäer Spenden überweist, weil auf einem anderen Kontinent ein Erdbeben verheerende Schäden angerichtet hat, „dann leiste ich meine Spende, weil ich meine eigene Verletzlichkeit erkenne.“Prainsack weiter: „In der allgemeinsten Form schließt das alle Menschen mit ein.“Alle sind im selben Boot. Manche würden noch ein Stück weitergehen und im Solidaritätsdenken alle Lebewesen miteinschließen.
Dass Menschen von Natur aus solidarisch sind, will die Sozialwissenschaftlerin dennoch nicht behaupten. Vielmehr hätten alle eine Disposition zur Solidarität, die konkret angesprochen werden müsse. Denn: Es würden sich immer Gemeinsamkeiten finden lassen, so die Forscherin.
Selbst der im politischen Diskurs angeprangerte Populismus sei nicht als der Gegenpol zur Solidarität aufzufassen. So hätten etwa die Anfänge des Sozialismus sehr wohl populistisch die prekäre Si-
als Forschungsthema: An der Universität Wien wurde eine eigene Forschungsgruppe „Zeitgenössische Solidaritätsstudien“eingerichtet, die am 1. Oktober 2018 mit neun Mitarbeitern den Betrieb aufnahm. Leiterin ist die Sozialwissenschaftlerin Barbara Prainsack, die vor zwei Jahren an die Uni Wien berufen wurde. Forschungsziel ist die Untersuchung verschiedener Tätigkeitsbereiche und die Beantwortung der Frage, wie sich Menschen in diesen solidarisch verhalten.
müssen erkannt und benannt werden. Aus diesen leitet sich das solidarische Verhalten ab. Von Natur aus ist den Menschen die Solidarität nicht unbedingt mitgegeben. tuation der Arbeiterklasse zum beherrschenden Thema gemacht, gleichzeitig aber solidarisch alle Arbeiter angesprochen. Gerade in der Arbeiterbewegung und in der christlichen Soziallehre war Solidarität ein zentraler Begriff. Aber das seit etlichen Jahren konstatierte Anwachsen des Populismus hätte zu antisolidarischen Sichtweisen geführt.
Die von Prainsack geleitete Forschungsgruppe, die neun Mitarbeiter umfasst, wird für verschiedene solidarische Anwendungsbereiche konkrete Gestaltungsprinzipien erarbeiten und der Politik Lösungen vorschlagen. Gerade bei gegensätzlichen Standpunkten müsse man Gemeinsamkeiten erkennen und diese „handlungsleitend“machen. Prainsack: „Das ist kein abstraktes Konzept, sondern daraus kann man praktische Handlungen ableiten, wie man Politikinhalte oder Institutionen gestalten will. Damit meine ich auch Steuersysteme und Gesundheitssysteme.“
Selbst der Klimawandel sei ein Thema, bei dem Gemeinsamkeiten und ein Wir-Gefühl etwas bewirken können. Ein weiteres Forschungsgebiet seien konkrete Transformationen in der Arbeitswelt, für die man solidarische Lösungen anbieten will. Bisher stand im Fokus der Forschung das Gesundheitssystem und seine Auswirkung auf die Patienten.
Die neue Arbeitsgruppe hat ihre Forschungsziele in dieser Woche in Wien bei einer Auftaktveranstaltung vorgestellt. Rund 120 Personen, darunter die Hälfte aus dem Ausland, haben teilgenommen. Allein die Liste der Referenten zeigt das Spektrum der Thematik. Unter ihnen waren Ethiker, Philosophen, Mediziner und Politikwissenschaftler. „Wir haben eine gute Sichtbarkeit und Wien als Standort für die Forschung zur Solidarität positioniert“, sagt Prainsack. Dieser Teil der Forschung sei in Österreich kein Neuland. Sie selbst war nach Studien in Wien und den USA als Gastprofessorin in Deutschland und mehreren englischen Universitäten tätig.