Ausschau nach einem Meer
Und was denkst du nun? Wie ist es dort?“, erkundigen sich Leser wie Freundinnen bereits wenige Tage nach meiner Ankunft in Pristina. Ich weiß es nicht zu sagen. Für einen Monat werde ich als Writer in Residence in der kosovarischen Hauptstadt leben und damit beschäftigt sein, auf jene Frage eine Antwort zu finden, die möglichst wenig changiert oder gar ausufert, ob der Ungeduld Fragender, und sich dennoch bemüht, die widersprüchlichen Wahrheiten eines Landes einzufangen:
Am Beginn dieses Aufenthalts stand vor allem das Staunen. So viel konnte ich bereits in den ersten Tagen mitteilen; und am Ende meiner Residenzzeit lautet der Befund kaum anders. Ich weiß nicht, was ich erwartet hatte – mit Sicherheit nicht, womit ich mich alsdann im täglichen Arbeiten konfrontiert sah oder was ich in zahllosen Gesprächen mit Einheimischen erfahren durfte. Je mehr Zeit verging, desto spannender wurde diese Entdeckungsreise. Herzliche Gastfreundschaft kennzeichnete meine Ankunft in ihrem Alltag, verblüffende Offenheit den Verlauf, und all dies währte bis zum letzten Tag – und darüber hinaus, wie ich versucht bin zu notieren.
Wer durch Pristina spaziert, durch Prizren oder Gjakova, wird immer wieder angesprochen werden; von Händlerinnen am Markt, von den Betreibern der unzähligen kleinen Cafes,´ von Passantinnen: Wo komme man her, wie lange sei man bereits hier? Sogleich wird der Sprechende hinzufügen, auch er oder sie habe in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich gelebt, für drei, fünf, sechs Monate, vor oder während des Krieges: Damals! Und der Blick wird sich im Erinnern verlieren, irgendwo an der Seite, am Trottoir, im Rinnstein, in welchem der Wind, der tagtäglich weht, den Müll sammelt, bevor sich das Augenpaar erneut hebt, einen unter gerunzelten Brauen fokussiert, damit die Frage aller Fragen folgen darf: Wie gefalle es einem hier, im Kosovo? Doch wehe, man antwortet alsdann gemäß eigener Überzeugung: „Gut!“Sofort kraust sich eine Nase, verzieht sich ein Gesicht: „Wieso? Was bitte solle jemandem an diesem Land gefallen?“Schon treibt der stete Wind Staub in unsere Gesichter, verschleiert sich der Blick in Tränenflüssigkeit, der Hals kratzt. Das würde bald noch schlimmer werden, spätestens im Winter, der Braunkohlewerke wegen, der Kohlenheizungen. In den ersten Tagen ließ mich dieser Wind – wider besseres Wissen – fortwährend nach einem Meer Ausschau halten, als müsse es sogleich hinter der kommenden Ecke, hinter dem sich aufbäumenden Hügel auf mich warten. Und ein Taschentuch allzeit bereit.
Auch von der Bauwut erzählt dieser Staub, die in Pristina von jeder Ecke, jeder Gasse Besitz ergriffen hat. Das Rätsel, ob man hier auf- oder abbaue, ob alles im Entstehen sei oder gerade eben vor die Hunde gehe, kann ich bis zum Monatsende nicht lösen. Nur, dass sie streunen, die Hunde. Träge begleiten sie meine Fußmärsche, mal vor mir, mal hinter mir; oder sie dösen an meiner Seite auf braungedörrten Grünflächen, lassen sich träge die spätsommerliche Sonne auf den Pelz scheinen. Nein, man verstehe mein „Gut!“nicht, sagt man zu mir. Derzeit jedenfalls sei jeder im Aufbruch, lerne Deutsch, studiere Englisch.