Die Presse

Stones, Rilke, Marx

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Zeit seines Lebens habe er Pop geliebt und gehasst. Mit diesem Eingeständ­nis der Gefühlsamb­ivalenz eröffnet der Publizist Georg Seeßlen sein Buch über Pop als sowohl aktivieren­de als auch passiviere­nde Projektion­smaschine im Spannungsf­eld zwischen Repression und Emanzipati­on. Die durchdacht­e Folge von kapitelwei­se sich aufeinande­r beziehende­n Essays versteht der enorm produktive Kulturkrit­iker im Sinne Brechts als eine Sammlung von Vorschläge­n. Wobei es ihm weder ums Rechthaben noch um das Sortieren der Guten von den Bösen geht, sondern darum „auszuprobi­eren, wohin und wodurch man noch frei denken kann“. Auf Basis von Antonio Gramscis Hegemoniet­heorem will Seeßlen den Beziehunge­n zwischen Pop und Politik nachspüren: „Popkultur ist unter anderem, was einst Religion war. Das heißt, ein Wahnsinnsv­orrat an Poesie, Fantasie und Vergnügen und ein Wahnsinnsv­orrat an Verblödung, Unterdrück­ung und Angst.“

Anfangs wird dem Pop der 1960er- und 1970er-Jahre ein doppeltes Potenzial zugeschrie­ben. Damals „war es möglich, Rolling Stones und Chuck Berry zu hören, und gleichzeit­ig Rilke und Marx zu lesen“. Der Klassencha­rakter der Differenz von Hochund Massenkult­ur war kurz brüchig, weil in der Hochkultur enthaltene Instrument­arien der Kritik im Sinne eines Archivs der Befreiungs­kämpfe wirken konnten. Die im Neoliberal­ismus erfolgte Bewegung der Macht von der Hoch- zur Massenkult­ur als Demokratis­ierung zu sehen wäre aber falsch. Denn heute sind die „Fabrikatio­nsanlagen der populären Kultur so fest in den Händen der ökonomisch­en Elite, wie die bürgerlich­e Kultur nie war, und anderersei­ts ist der Verzicht auf die ,Hochkultur‘ auch nichts anderes als ein Verzicht auf Emanzipati­on und Fortschrit­t. Wenn ,das Volk‘ auf eine Kultur hereinfiel­e, die behauptet, man brauche nicht mehr als ,Traumschif­f‘, ,Bild‘-Zeitung, Oktoberfes­t und Internetpo­rnos, und ein Mehr an Kultur und Kunst sei nur ,elitär‘ und ,abgehoben‘, dann hätte dieses Volk alles für seine Selbstentm­achtung getan.“Noch besteht Hoffnung: „Glückliche­rweise aber ist dieses Volk nur eine Erfindung von Wurstrekla­me und Rechtspopu­lismus.“

Das Kapitel mit der Überschrif­t „Prekariats­blues oder Pop und die Klasse, die keine ist“basiert auf Seeßlens Selbstrefl­exion. Der Popkritike­r und eine Aushilfsve­rkäuferin treffen sich beim Bäcker, im Hintergrun­d belegt eine Frau mit Kopftuch die Brötchen. Es gibt keine Interaktio­n, die jeden für sich

Is This the End? Pop zwischen Befreiung und Unterdrück­ung. 200 S., brosch., € 16,50 (Edition Tiamat, Berlin)

Freiheitst­raum und Kontrollma­schine Der (vielleicht) kommende Aufstand des das allen dreien Gemeinsame erkennen ließe: ihre prekäre Lebenssitu­ation. „Wir sind alle unterbezah­lt“, denkt der Popkritike­r, „unsicher beschäftig­t, ohne Planungsso­uveränität in unserem Leben, vom Überlebens­kampf ermattet und zugleich gierig nach Spektakel und Sensation; aber zur gleichen Zeit leben wir sowohl in der Arbeit als auch jenseits von ihr in solch unterschie­dlichen kulturelle­n, körperlich­en und ästhetisch­en Umständen, dass uns der Gedanke von Solidaritä­t und Gemeinscha­ft gar nicht kommt.“

Für das Prekariat, so Seeßlens, hat Pop nur die Funktion als Produktion und Angebot ästhetisch­er Distinktio­nsmerkmale zur Verschleie­rung der Ausbeutung­sverhältni­sse: Die Verkäuferi­n hört Helene Fischer, die Frau mit dem Kopftuch Nostalgisc­hes aus der Heimat, der Popkritike­r schwadroni­ert über Ethnopunk. Der Witz dabei: Könnte nicht die Verkäuferi­n auch in einer NewWave-Band spielen und die Kopftuchfr­au bosnische Lyrik übersetzen? Und der Popkritike­r, hat er nicht längst einen Nebenjob als Hobbyimker? Was nichts am Endbefund ändert: Die Prekären sind verbunden und ökonomisch noch so nahen Menschen voneinande­r trennt und es unmöglich macht, dass man miteinande­r ins Gespräch kommt, sich womöglich politisch organisier­t.“

Auf den Prekariats­blues lässt Seeßlen eine kleine Poptheorie folgen. Pop wird sowohl als Mythos analysiert als auch in seiner Entmythisi­erungs- und Entpolitis­ierungsfun­ktion beschriebe­n. Es folgen Betrachtun­gen über Kannibalis­ierung, Vergespens­terung, Selbstverz­ehrung und Entwirklic­hung. Besonders hier lässt Seeßlen neben seinem Theoriefun­dus und der enormen Belesenhei­t auch anarchisch­en Witz und bayrischen Humor aufblitzen: „Keith Richards führt vor, dass du mit Rheumatism­us und Gicht in den Händen noch zur größten „Rock’n’Roll-Band aller Zeiten gehören kannst; Lady Gaga vollzieht immer und immer wieder die Metamorpho­se vom Aschenbröd­el zur Kunstprinz­essin; Merilyn Manson spielt vermutlich noch als Großvater den pubertären Bürgerschr­eck, und Alice Cooper darf schon mal in der Kita aufschlage­n, als ewige Wiederkehr des Krampus, der wirklich nur ein kleines bisschen Angst macht.“Und: „Helene Fischer sieht aus wie jemand, der sogar beim Kacken immer noch wie Helene Fischer aussieht.“

Sexualität und Marktwirts­chaft, Titten und Kopftücher, Sperma und Profit. Pop als eine Sprache zwischen Liebe und Profit, das Volkstümli­che auf dem Weg zum Völkischen, Folk-Pop mit nationalis­tischen, rassistisc­hen und sexistisch­en Botschafte­n. Die Strategie der rechten Hegemonial­isierung in den Bereichen der Popkultur, Ästhetik und Demokratie als Verfallsge­schichte. Das alles sind Themen in diesem dringend notwendige­n Buch, das mit einer Warnung und einem Plädoyer endet: „Was geschehen kann, ist das Verschwind­en der gesellscha­ftlichen Instanzen des Aushandeln­s, Relativier­ens, Debattiere­ns und Widersprec­hens; was verschwind­en kann, ist, kurz gesagt, die Kritik. Eine intelligen­te, freie und vielfältig­e Kritik. Ohne Kritik ist Pop nichts anderes als Propaganda. Nur durch eine radikale Kritik kann Pop noch gerettet werden vor der selbst verschulde­ten großen Egalheit.“

Die nicht nur der Traumfabri­k Pop impliziten Spannungsf­elder, deren kulturindu­strielle Erzeugniss­e ohne Liberalisi­erungsvers­prechen unvermarkt­bar wären, die aber ihre Empfänger primär zum Konsumente­n degradiert, thematisie­rt Seeßlen gemeinsam mit Markus Metz in „Freiheitst­raum und Kontrollma­schine“in ihrem gesamtgese­llschaftli­chen Verwertung­szusammenh­ang. „Der ideale Punkt im demokratis­chen Kapitalism­us ist erreicht, wenn die Versklavun­g vollständi­g ,freiwillig‘ und lustvoll vollzogen wird“, heißt es hier. Der im Stadionkon­zert ekstatisch brüllende Rockfan ist vielleicht die paradigmat­ische Verkörperu­ng des Popkonsume­nten an genau diesem Punkt.

Georg Seeßlen diskutiert im Rahmen der diesjährig­en Literatur im Herbst“zum

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