Wer hat den „Tate“verraten?
Der Titel erinnert an einen der besten satirischen Romane der Weltliteratur, an „Zwölf Stühle“von Ilf und Petrow von 1928. Bei Maxim Biller sind es nur halb so viele, nämlich sechs, und keine Stühle, sondern Koffer. Biller, 1960 in Prag geboren, seit 1970 in Deutschland daheim, hat sich mit aggressiven Texten und provokanten Äußerungen einen Namen gemacht. Innerhalb der oft humorlosen deutschen Gegenwartsliteratur erfrischte er durch Frechheit und Witz, durch Ironie und Spott, einmal mit dem Florett, einmal eher mit dem groben Keil.
Das besagt noch nichts über Billers Sprachstil. Er ist elegant, ausdrucksstark, musikalisch und in der Syntax eher unkompliziert, also leicht lesbar. Wahrscheinlich ist auch das ein Grund für Billers Erfolg. Maxim Biller gehört zu jenen Autoren seiner Generation, die die Literatur der Glosse, dem Feuilleton annähern.
Billers neuer Roman beginnt in Prag mit dem Vater des Ich-Erzählers. Man schreibt den Mai des Jahres 1965. Da war der Autor knapp fünf Jahre alt, und, nur minimal verfremdet, sechs Jahre alt ist zu diesem Zeitpunkt der Erzähler, der kurioserweise im August 1975 wie der Autor fünfzehn wird. Die Dialoge sind durchsetzt mit jiddischen Ausdrücken. Auch das ist typisch für Biller. Einen deutschen Woody Allen kann er dennoch nicht abgeben. Das liegt an der simplen Tatsache, dass das jüdische Milieu nach dem Holocaust in Deutschland, anders als in New York, exotisch und auch dort komisch wirkt, wo es das keineswegs sein soll.
Der Vater des Erzählers ist von Russland in die Tschechoslowakei übersiedelt. Dessen Vater wurde 1960 in Moskau mit ein paar Dollar im Gepäck verhaftet und ein halbes Jahr danach hingerichtet, Dima, der Onkel des Erzählers, wurde kurz darauf in Prag, wegen eines Fluchtversuchs, für fast fünf Jahre ins Gefängnis verbannt. 1969, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, beschließt die Familie des Erzählers, in den Westen zu fliehen. 1975 besucht der Erzähler den Onkel Dima in Zürich. Hier wird ihm klar, warum ein weiterer Onkel, Lev, der schon früher, nach den Slansk´y-´ Prozessen (einer Chiffre für die antisemitischen Verfolgungen der Stalin-Zeit), in den Westen gegangen ist, den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen hat. Er verdächtigt Dima, den eigenen Vater, also den Großvater des Erzählers, den dieser zur Erinnerung, dass von Juden die Rede ist, den Tate nennt, 1960 in Russland verraten zu haben.
Onkel Lev lebt, wie der Erzähler, der ihn noch nie leibhaftig gesehen hat, erst jetzt erfährt, ebenfalls in Zürich. Er nimmt telefonisch Kontakt mit ihm auf. Und hätte die Möglichkeit, „die andere Seite der Wirklich- keit“zu erkennen. Ein Treffen findet nicht statt. Levs andere Seite der Wirklichkeit kommt erst auf Seite 151 ins Spiel, nachdem drei Viertel des Romans erzählt sind. Damit der Leser nicht vergisst, dass es um einen Fünfzehnjährigen geht, und weil der Autor Maxim Biller heißt, bilden Beschreibungen von Sexualproblemen ein retardierendes Moment, wie in den hunderttausend Coming-of-Age-Stories, mit denen wir permanent geplagt werden.
In einer Schublade bei Onkel Dima findet der Erzähler die Aktenmappe des tschechoslowakischen Staatssicherheitsdienstes. Aus ihr geht hervor, dass der „Tate“bereits 1958 verhaftet wurde, also zwei Jahre vor dem angeblichen Verrat durch Dima (oder war gar Lev der Verräter?). Das Rätsel lässt den Erzähler nicht los, über Jahrzehnte hinweg versucht er, das Geheimnis um den Tod des Großvaters zu lösen. Weil das, wie
Qim Roman „Zwölf Stühle“, in Form eines Krimis geschieht, soll hier nicht zu viel verraten werden.
Thematisch ordnet sich „Sechs Koffer“in die inzwischen beachtliche Reihe von Büchern über den Stalinismus ein – von Nadeschda Mandelstams „Jahrhundert der Wölfe“bis zu Schalamows Straflagerzyklus, von Milan Kunderas „Scherz“bis zu György Konrads´ „Komplize“, mit der Besonderheit freilich, dass Biller eine Generation jünger als diese Autoren ist. Formal erinnert Biller an jüdische Erzähler, auch an den bei uns wenig bekannten tschechischen Journalisten und Schriftsteller Ota Pavel, unter den jüngeren Autorinnen an Alina Bronsky.
„Sechs Koffer“ist ein Roman über die Deformation, die totalitäre Staaten an den einzelnen Menschen verursachen, über Verdächtigungen, die Familien zerstören und Beziehungen torpedieren. In den Details bleibt Maxim Biller sehr nah an den verbürgten Tatsachen. Die historischen Daten, die Namen von Straßen, Stadtteilen, Cafes´ und Institutionen sind authentisch. Meistens jedenfalls. Ich habe die Probe aufs Exempel gemacht. An einer Stelle ist vom Filmfestival in Karlsbad 1967 die Rede. 1967 gab es in Karlsbad kein Festival. Und 1968 hat weder die Tante aus dem Roman noch Louis Malle in Locarno den Pardo d’oro erhalten. Es stimmt auch nicht, dass im Zusammenhang mit der tschechischen Nouvelle Vague nur von Forman, Menzel und Veraˇ Chytilova´ die Rede war. Jan Nemec, Vojtech Jasny oder Evald Schorm waren damals nicht weniger populär.
Die Charaktere verleihen dem Roman Farbe, lassen die Geschichte lebendig werden. Biller benutzt als atmosphärische Verfremdung sogar tschechische Wörter, ohne sie zu erklären. Welcher deutschsprachige Leser weiß schon, dass „kurva“„Hure“heißt und ein beliebter Fluch ist wie in Amerika „fuck“? Eines mag überraschen: Wie sehr der Autor, der die CˇSSR als Kind verlassen hat, seinem Geburtsland verhaftet (!) ist. Auf der ersten Seite übersetzt der Vater des Erzählers Haseksˇ „Schwejk“, auf der letzten Seite erwähnt der Erzähler die tschechischen Marionetten Hurv´ınek und Spejbl. Der Ausdruck übrigens, für den der Vater ein russisches Äquivalent suchte, das aber komisch klingen sollte, war „fauliger Geruch“.
Das Buch hat ein Leseband. Es hilft, jene Stelle wiederzufinden, an der man die Lektüre unterbrochen hat, wenn die Erzählung, in der zweiten Hälfte, etwas zu ausschweifend wurde.
Sechs Koffer Roman. 208 S., Ln., € 19,60 (Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln)