Interview mit Kommissionsvizepräsident Timmermans
Interview. Timmermans, erster Kommissionsvize, zum Brexit, neuen Nationalismen – und mit Kritik zum österreichischen Fokus auf den Grenzschutz.
Die Presse: Die EU-Kommission bereitet sich ja nach wie vor auf einen ungeordneten Austritt Großbritanniens ohne Abkommen vor. Haben Sie also tatsächlich so wenig Vertrauen in die britische Innenpolitik? Frans Timmermans: Das hat damit zu tun, dass wir auf alles vorbereitet sein müssen. Das verlangen die Bürger von uns, das verlangen die Mitgliedstaaten. Die Kommission musste das tun.
Im EU-Vertrag ist zwar der Austritt verankert. Das Beispiel Brexit zeigt aber, dass ein solcher ohne wirtschaftliche und politische Friktionen nicht funktioniert. War das nur eine theoretische Möglichkeit? Ich habe mich damals im Konvent, der den EU-Vertrag erarbeitet hat, damit beschäftigt. Wir wollten eine Austrittsmöglichkeit. Die Wahrheit ist aber, dass niemand damals geglaubt hat, dass dieser Artikel 50 auch einmal benutzt wird. Wir wollten zeigen, dass die EU kein Gefängnis ist. Wir haben sogar geglaubt, dass wir mit diesem Artikel jenen in Großbritannien den Wind aus den Segeln nehmen, die kritisiert haben, sie könnten nicht aus der EU austreten. Viel wichtiger ist aber, dass wir jetzt erkennen, was passiert, wenn man über 40 Jahre zusammenwächst. Denn das kann man tatsächlich nicht so leicht trennen.
Wir sehen ja auch in einigen Mitgliedsländern Osteuropas derzeit, dass es Regierungen gibt, die mit dem rein rechtlichen Konstrukt der EU Probleme haben. Fehlt mittlerweile der politische Zusammenhalt? Ich glaube, das hat viel mit der Globalisierung zu tun. Die Welt ändert sich so unheimlich schnell, dass die Menschen den Satz „Take back control“umgesetzt haben wollen. Es sind existenzielle Fragen, wenn es um den künftigen Arbeitsplatz, um den Erhalt der Identität geht. Und da ist der Eindruck entstanden: Die Europäische Union schützt uns nicht genug. Als Reflex wünschen sich dann viele den Nationalstaat zurück, den sie in ihrer Erinnerung als schützend empfunden haben. Aber damit wird die Entwicklung der Welt negiert. Es ist heute unvorstellbar, dass Mitgliedstaaten allein die Probleme mit US-Präsident Trump, mit dem Klimawandel, mit Migrationsfragen bewältigen können. Der Wunsch nach nationaler Identität ist allerdings bereits ein politischer Faktor, der gemeinsame europäische Lösungen behindert – siehe Migrationskrise. Das grundsätzliche Problem der Nationalisten ist, dass sie nur einig sind, wenn es gegen jemanden geht. Sie sind sich einig gegen Brüssel. Aber wenn etwas gemeinsam geschaffen werden muss, sind sie sich nicht einig. Als sich Orban´ und Salvini getroffen haben, gab es große Einigkeit, aber sobald es um Lösungen für die Migration ging, war das gleich wieder vorbei.
Polen, Ungarn und nun Rumänien empfinden die Einflussnahme durch Brüssel auf ihre Bestellungen von Richtern und Staatsanwälten als Einmischung in innere Angelegenheiten. Ist sie das? Der Binnenmarkt kann nur funktionieren, wenn die Rechtssetzung überall gleich umgesetzt wird. Deshalb ist der nationale Richter auch EU-Richter. Wenn ein Richter eine Frage zur Auslegung des Unionsrechts hat, fragt er den Europäischen Gerichtshof. Daher ist der EuGH auch nationaler Richter. Wenn aber ein nationaler Richter nicht mehr unabhängig ist, wenn er zuerst ein Telefonat mit der Parteizentrale führt, in dem es darum geht, wie er EU-Recht auszulegen hat, dann gibt es kein einheitliches EURecht mehr. Dann gibt es kein einheitliches Spielfeld für Unternehmer in Europa mehr. Wir können uns nicht leisten, den europäischen Rechtsstaat in mehrere Rechtsstaaten aufzuteilen. Und dabei rede ich noch nicht einmal vom Rechtsschutz der Bürger.
Es ist zu beobachten, dass der Widerstand gegen Entscheidungen aus
Brüssel immer stärker wird. Polen hat die Neubesetzung seiner obersten Richter erst nach einem EuGH-Beschluss gestoppt. Italien weigert sich, sein Budget an EU-Regeln anzupassen. Ist gemeinsames Recht noch exekutierbar? Ich bin da optimistisch. Letztendlich sind es die Bürger und Bürgerinnen, die entscheiden. Die Zivilgesellschaft in Polen etwa ist sehr stark. Sie wird das nicht hinnehmen. Wenn es kein gesellschaftliches Einverständnis gebe, dann hätten wir in Brüssel auch keine Möglichkeiten mehr. Ein Fußballspiel kann auch nur so lang funktionieren, so lang alle Spieler akzeptieren, dass der Schiedsrichter entscheidet, wo es langgeht. Wir können also als EU-Kommission nur so lang funktionieren, wie es einen Konsens gibt, dass der Rechtsstaat für alle Mitgliedstaaten gleich gilt.
Die Paktfähigkeit lässt nach – siehe Aufkündigung des Abrüstungsvertrags durch Trump, siehe Nichtteilnahme Österreichs am Migrationspakt? Tja, das ist nicht zu glauben. Ist das ein internationaler Trend? Wenn wir Werte nicht mehr zur Grundlage unserer internationalen Politik machen können, dann entspricht unsere Größe wirklich nur noch sieben Prozent der Weltbevölkerung. Warum ist Europa denn so attraktiv? Nicht wegen seiner Macht, sondern wegen der Schönheit unseres Zusammenlebens, das auf Werten basiert. Ohne die sind wir nichts mehr.
Sie sind Gast einer Konferenz zu nachhaltigem Wachstum in Wien. Gibt es denn überhaupt noch einen ausreichenden Willen, um Umwelt- oder soziale Probleme gemeinsam zu lösen? Teilweise gibt es diesen schon. Es gibt aber auch die Notwendigkeit, das zu tun. In einer Zeit, in der so viele existenzielle Fragen aufgeworfen werden, ist es schlecht, wenn das Empfinden entsteht: Ich bin abhängig von meinem Nachbarn, aber ich traue ihm nicht mehr. Wenn wir wieder erkennen, dass wir die Nachbarn brauchen, wird es leichter.
Bei den Brexit-Verhandlungen hat es diesen gemeinsamen Willen der EU-27 gegeben. Warum hat es da funktioniert, bei vielen anderen Fragen aber nicht? Wenn es einen Schicksalsmoment gibt, stehen die Europäer zusammen. Ich habe das auch bei der Migrationsfrage erlebt. 2015 war noch der Tenor, dass wir diese Frage zusammen lösen müssen. Jetzt, wo es weniger Zuwanderer gibt, machen viele Regierungen Probleme. Bei der Euro-Krise war das ähnlich.
Österreich propagiert die Subsidiarität. Ist sie ein Modell, um die Spannungen aus dem Verhältnis zwischen Mitgliedstaaten und der EU zu nehmen? Mit Subsidiarität können wir Bürgernähe fördern. Aber ich fordere in diesen Diskussionen immer dazu auf, die Listen von den Entscheidungen vorzulegen, die besser auf nationaler oder regionaler Ebene gelöst werden sollten. Dann fühle ich mich wie Mozart mit der „Entführung aus dem Serail“im Film von Milosˇ Forman. Da geht Mozart zum Kaiser und fragt ihn: „Majestät, war es gut?“Und der Kaiser sagt: „Ja, schön, aber zu viele Noten.“Und dann hat Mozart gefragt: „Welche Noten möchten sie dann streichen?“So ist es auch in dieser Debatte. Was sollen wir denn herausstreichen? In vielen Debatten mit Bürgermeistern haben wir gesehen, es geht oft gar nicht um die Frage, ob Europa hier gemeinsam etwas tun soll, es geht vor allem um die Art und Weise. Und genau da kann ja tatsächlich noch viel verbessert werden. Sie treten als Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten an. Was ist Ihr inhaltlicher Schwerpunkt? Es ist genau das, worüber wir gerade gesprochen haben: „Get back control“. Die Menschen sollen die Sicherheit bekommen, dass sie auch dann ihren Platz haben, wenn sich das wirtschaftliche Umfeld ändert. Wir haben den Sozialstaat auf europäischer Ebene vernachlässigt. Die Mitgliedstaaten wollen das alles national machen. Aber wenn wir einen gemeinsamen Binnenmarkt haben, können wir doch nicht über Sozial- und Steuerdumping diese gemeinsame Wirtschaft organisieren. Dann wird der Binnenmarkt zur Bedrohung für die Menschen statt zur Stärkung. Es geht doch auch nicht, dass ein Österreicher, der eine Konditorei eröffnet, volle Steuern zahlen muss, aber Starbucks daneben nur einen Bruchteil. Europa soll schützen, wie es die österreichische Regierung fordert – das muss aber mehr bedeuten, als Wachtürme an den Grenzen aufzustellen. Es geht auch darum, Bildung anzubieten, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie sich in ihrer eigenen Identität wohlfühlen und nicht Angst vor anderen Identitäten haben.