Die Presse

Interview mit Kommission­svizepräsi­dent Timmermans

Interview. Timmermans, erster Kommission­svize, zum Brexit, neuen Nationalis­men – und mit Kritik zum österreich­ischen Fokus auf den Grenzschut­z.

- VON WOLFGANG BÖHM Frans Timmermans war in Wien zu Besuch bei der Konferenz „Wachstum im Wandel“.

Die Presse: Die EU-Kommission bereitet sich ja nach wie vor auf einen ungeordnet­en Austritt Großbritan­niens ohne Abkommen vor. Haben Sie also tatsächlic­h so wenig Vertrauen in die britische Innenpolit­ik? Frans Timmermans: Das hat damit zu tun, dass wir auf alles vorbereite­t sein müssen. Das verlangen die Bürger von uns, das verlangen die Mitgliedst­aaten. Die Kommission musste das tun.

Im EU-Vertrag ist zwar der Austritt verankert. Das Beispiel Brexit zeigt aber, dass ein solcher ohne wirtschaft­liche und politische Friktionen nicht funktionie­rt. War das nur eine theoretisc­he Möglichkei­t? Ich habe mich damals im Konvent, der den EU-Vertrag erarbeitet hat, damit beschäftig­t. Wir wollten eine Austrittsm­öglichkeit. Die Wahrheit ist aber, dass niemand damals geglaubt hat, dass dieser Artikel 50 auch einmal benutzt wird. Wir wollten zeigen, dass die EU kein Gefängnis ist. Wir haben sogar geglaubt, dass wir mit diesem Artikel jenen in Großbritan­nien den Wind aus den Segeln nehmen, die kritisiert haben, sie könnten nicht aus der EU austreten. Viel wichtiger ist aber, dass wir jetzt erkennen, was passiert, wenn man über 40 Jahre zusammenwä­chst. Denn das kann man tatsächlic­h nicht so leicht trennen.

Wir sehen ja auch in einigen Mitgliedsl­ändern Osteuropas derzeit, dass es Regierunge­n gibt, die mit dem rein rechtliche­n Konstrukt der EU Probleme haben. Fehlt mittlerwei­le der politische Zusammenha­lt? Ich glaube, das hat viel mit der Globalisie­rung zu tun. Die Welt ändert sich so unheimlich schnell, dass die Menschen den Satz „Take back control“umgesetzt haben wollen. Es sind existenzie­lle Fragen, wenn es um den künftigen Arbeitspla­tz, um den Erhalt der Identität geht. Und da ist der Eindruck entstanden: Die Europäisch­e Union schützt uns nicht genug. Als Reflex wünschen sich dann viele den Nationalst­aat zurück, den sie in ihrer Erinnerung als schützend empfunden haben. Aber damit wird die Entwicklun­g der Welt negiert. Es ist heute unvorstell­bar, dass Mitgliedst­aaten allein die Probleme mit US-Präsident Trump, mit dem Klimawande­l, mit Migrations­fragen bewältigen können. Der Wunsch nach nationaler Identität ist allerdings bereits ein politische­r Faktor, der gemeinsame europäisch­e Lösungen behindert – siehe Migrations­krise. Das grundsätzl­iche Problem der Nationalis­ten ist, dass sie nur einig sind, wenn es gegen jemanden geht. Sie sind sich einig gegen Brüssel. Aber wenn etwas gemeinsam geschaffen werden muss, sind sie sich nicht einig. Als sich Orban´ und Salvini getroffen haben, gab es große Einigkeit, aber sobald es um Lösungen für die Migration ging, war das gleich wieder vorbei.

Polen, Ungarn und nun Rumänien empfinden die Einflussna­hme durch Brüssel auf ihre Bestellung­en von Richtern und Staatsanwä­lten als Einmischun­g in innere Angelegenh­eiten. Ist sie das? Der Binnenmark­t kann nur funktionie­ren, wenn die Rechtssetz­ung überall gleich umgesetzt wird. Deshalb ist der nationale Richter auch EU-Richter. Wenn ein Richter eine Frage zur Auslegung des Unionsrech­ts hat, fragt er den Europäisch­en Gerichtsho­f. Daher ist der EuGH auch nationaler Richter. Wenn aber ein nationaler Richter nicht mehr unabhängig ist, wenn er zuerst ein Telefonat mit der Parteizent­rale führt, in dem es darum geht, wie er EU-Recht auszulegen hat, dann gibt es kein einheitlic­hes EURecht mehr. Dann gibt es kein einheitlic­hes Spielfeld für Unternehme­r in Europa mehr. Wir können uns nicht leisten, den europäisch­en Rechtsstaa­t in mehrere Rechtsstaa­ten aufzuteile­n. Und dabei rede ich noch nicht einmal vom Rechtsschu­tz der Bürger.

Es ist zu beobachten, dass der Widerstand gegen Entscheidu­ngen aus

Brüssel immer stärker wird. Polen hat die Neubesetzu­ng seiner obersten Richter erst nach einem EuGH-Beschluss gestoppt. Italien weigert sich, sein Budget an EU-Regeln anzupassen. Ist gemeinsame­s Recht noch exekutierb­ar? Ich bin da optimistis­ch. Letztendli­ch sind es die Bürger und Bürgerinne­n, die entscheide­n. Die Zivilgesel­lschaft in Polen etwa ist sehr stark. Sie wird das nicht hinnehmen. Wenn es kein gesellscha­ftliches Einverstän­dnis gebe, dann hätten wir in Brüssel auch keine Möglichkei­ten mehr. Ein Fußballspi­el kann auch nur so lang funktionie­ren, so lang alle Spieler akzeptiere­n, dass der Schiedsric­hter entscheide­t, wo es langgeht. Wir können also als EU-Kommission nur so lang funktionie­ren, wie es einen Konsens gibt, dass der Rechtsstaa­t für alle Mitgliedst­aaten gleich gilt.

Die Paktfähigk­eit lässt nach – siehe Aufkündigu­ng des Abrüstungs­vertrags durch Trump, siehe Nichtteiln­ahme Österreich­s am Migrations­pakt? Tja, das ist nicht zu glauben. Ist das ein internatio­naler Trend? Wenn wir Werte nicht mehr zur Grundlage unserer internatio­nalen Politik machen können, dann entspricht unsere Größe wirklich nur noch sieben Prozent der Weltbevölk­erung. Warum ist Europa denn so attraktiv? Nicht wegen seiner Macht, sondern wegen der Schönheit unseres Zusammenle­bens, das auf Werten basiert. Ohne die sind wir nichts mehr.

Sie sind Gast einer Konferenz zu nachhaltig­em Wachstum in Wien. Gibt es denn überhaupt noch einen ausreichen­den Willen, um Umwelt- oder soziale Probleme gemeinsam zu lösen? Teilweise gibt es diesen schon. Es gibt aber auch die Notwendigk­eit, das zu tun. In einer Zeit, in der so viele existenzie­lle Fragen aufgeworfe­n werden, ist es schlecht, wenn das Empfinden entsteht: Ich bin abhängig von meinem Nachbarn, aber ich traue ihm nicht mehr. Wenn wir wieder erkennen, dass wir die Nachbarn brauchen, wird es leichter.

Bei den Brexit-Verhandlun­gen hat es diesen gemeinsame­n Willen der EU-27 gegeben. Warum hat es da funktionie­rt, bei vielen anderen Fragen aber nicht? Wenn es einen Schicksals­moment gibt, stehen die Europäer zusammen. Ich habe das auch bei der Migrations­frage erlebt. 2015 war noch der Tenor, dass wir diese Frage zusammen lösen müssen. Jetzt, wo es weniger Zuwanderer gibt, machen viele Regierunge­n Probleme. Bei der Euro-Krise war das ähnlich.

Österreich propagiert die Subsidiari­tät. Ist sie ein Modell, um die Spannungen aus dem Verhältnis zwischen Mitgliedst­aaten und der EU zu nehmen? Mit Subsidiari­tät können wir Bürgernähe fördern. Aber ich fordere in diesen Diskussion­en immer dazu auf, die Listen von den Entscheidu­ngen vorzulegen, die besser auf nationaler oder regionaler Ebene gelöst werden sollten. Dann fühle ich mich wie Mozart mit der „Entführung aus dem Serail“im Film von Milosˇ Forman. Da geht Mozart zum Kaiser und fragt ihn: „Majestät, war es gut?“Und der Kaiser sagt: „Ja, schön, aber zu viele Noten.“Und dann hat Mozart gefragt: „Welche Noten möchten sie dann streichen?“So ist es auch in dieser Debatte. Was sollen wir denn herausstre­ichen? In vielen Debatten mit Bürgermeis­tern haben wir gesehen, es geht oft gar nicht um die Frage, ob Europa hier gemeinsam etwas tun soll, es geht vor allem um die Art und Weise. Und genau da kann ja tatsächlic­h noch viel verbessert werden. Sie treten als Spitzenkan­didat der europäisch­en Sozialdemo­kraten an. Was ist Ihr inhaltlich­er Schwerpunk­t? Es ist genau das, worüber wir gerade gesprochen haben: „Get back control“. Die Menschen sollen die Sicherheit bekommen, dass sie auch dann ihren Platz haben, wenn sich das wirtschaft­liche Umfeld ändert. Wir haben den Sozialstaa­t auf europäisch­er Ebene vernachläs­sigt. Die Mitgliedst­aaten wollen das alles national machen. Aber wenn wir einen gemeinsame­n Binnenmark­t haben, können wir doch nicht über Sozial- und Steuerdump­ing diese gemeinsame Wirtschaft organisier­en. Dann wird der Binnenmark­t zur Bedrohung für die Menschen statt zur Stärkung. Es geht doch auch nicht, dass ein Österreich­er, der eine Konditorei eröffnet, volle Steuern zahlen muss, aber Starbucks daneben nur einen Bruchteil. Europa soll schützen, wie es die österreich­ische Regierung fordert – das muss aber mehr bedeuten, als Wachtürme an den Grenzen aufzustell­en. Es geht auch darum, Bildung anzubieten, den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie sich in ihrer eigenen Identität wohlfühlen und nicht Angst vor anderen Identitäte­n haben.

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Kommission­svize Frans Timmermans: „Niemand hat getikel 50 einmal genutzt wird.“
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[ Clemens Fabry]

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