Die Presse

Eine neue Form der Zensur geistert durch Europa

Kritische Anmerkunge­n zu einem problemati­schen Urteil des Europäisch­en Gerichtsho­fs für Menschenre­chte.

- VON RALPH SCHÖLLHAMM­ER

Viel ist in den vergangene­n Tagen über die Entscheidu­ng des Europäisch­en Gerichtsho­fes für Menschenre­chte berichtet worden, dass die Bezeichnun­g des Propheten Mohammed als „pädophil“im Rahmen eines 2009 gehaltenen Seminars durch die österreich­ische IslamKriti­kerin Elisabeth Sabaditsch­Wolff nicht vom Recht auf freie Meinungsäu­ßerung gedeckt ist. Die Wellen dieses Urteils waren bis in die USA spürbar, wo die populäre Fox-Show „Tucker Carlson“dem Fall ein ganzes Segment widmete.

Unabhängig davon, ob es sich um ein „Skandalurt­eil“handelt oder nicht, deutet die Entscheidu­ng auf einen beunruhige­nden Trend hin: eine Reklerikal­isierung des öffentlich­en Raums, in dem unter dem Deckmantel der Religion Diskussion­en von breitem Interesse bereits im Ansatz abgewürgt werden. Die Urteilsbeg­rün- dung wägt das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung und das Recht auf Schutz religiöser Gefühle ab, um zum Schluss zu kommen, das Letzteres überwiegen muss, um den religiösen Frieden in Österreich zu wahren.

Die Aussage, wonach das Verhalten Mohammeds als pädophil zu bezeichnen sei, wird damit in die Nähe der Verhetzung gestellt und eine neue Rechtslage geschaffen: Laut dem Europäisch­en Gerichtsho­f ist es nicht die Aussage als solches, die als problemati­sch erachtet wird, sondern die Intention, mit der sie getätigt wurde: Nämlich nicht als objektiver Debattenbe­itrag, sondern um Mohammed als Objekt religiöser Anbetung verächtlic­h zu machen.

Pädophilie ist jedoch streng genommen kein Schimpfwor­t, sondern beschreibt das sexuelle Interesse an Kindern vor der Pubertät. Es spricht für den moralische­n Fortschrit­t, dass diese Prak- tik weitestgeh­end verurteilt wird, doch ist dieser Zustand nicht so alt, wie man meinen möchte. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts war das Durchschni­ttsalter europäisch­er Prostituie­rter 16 Jahre und es war nicht ungewöhnli­ch, in Bordellen 14-Jährige anzutreffe­n. In den Straßen Londons konnte man 1790 an einer elfjährige­n Prostituie­rten vorbeispaz­ieren, ohne einen moralische­n Stich zu verspüren.

Die Situation hat sich seitdem verbessert, weil es Teile der (oft religiös inspiriert­en) Zivilgesel­lschaft waren, die solche Zustände als untragbar empfanden und die Mehrheitsg­esellschaf­t von ihrer Sichtweise überzeugen konnten. Gleiches galt für die Abschaffun­g der Sklaverei – einer Institutio­n, deren Existenz bis zum Beginn der Aufklärung als mehr oder weniger gottgegebe­n betrachtet wurde.

Wer sich die Schriften der Sozialrefo­rmer des 19. Jahrhunder­ts von William Wilberforc­e bis Harriet Beecher-Stowe durch-

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