Kriegsgefahr im Asowschen Meer
Russland/Ukraine. Präsident Poroschenko will das Kriegsrecht verhängen, weil Russlands Küstenwache an der Meerenge von Kertsch drei ukrainische Patrouillenboote nach einem Feuergefecht beschlagnahmt hat.
Moskau. Das Asowsche Meer ist bekannt als seichtes, wellenarmes Gewässer. Doch im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine droht aus dem Binnenmeer eine neue, gefährliche Front zu werden. Seit Moskaus Krim-Annexion vor knapp fünf Jahren und insbesondere seit Einweihung der KrimBrücke im Mai haben sich in der Region im Süden der Ukraine die Spannungen zwischen den Nachbarstaaten verschärft.
Am Sonntag kam es erstmals zu einer offenen Konfrontation: Ein Schiff der russischen Grenzwache rammte das ukrainische Marineschiff Berdjansk, das gemeinsam mit zwei weiteren Schiffen durch die Meerenge von Kertsch in das Asowsche Meer einfahren wollte. Die Russen blockierten die Meerenge. Und sie fingen die ukrainischen Schiffe in einer Verfolgungsjagd ab, bei der auch Schüsse abgefeuert wurden.
Sechs ukrainische Marineangehörige wurden bei dem Zwischenfall verletzt. Sie werden in einem Krankenhaus auf der von Moskau annektierten Krim behandelt. Die drei Boote und 23 Besatzungsmitglieder befinden sich weiters in russischem Gewahrsam. Moskau schweigt trotz internationaler Appelle zu ihrer Freilassung.
Will Poroschenko Wahl verschieben?
Die Ukraine erwägt nach dem Zwischenfall eine umstrittene Reaktion: Präsident Petro Poroschenko will ein für 30 Tage gültiges Kriegsrecht verhängen. Im Kiewer Parlament wurde am Montagnachmittag in einer Sondersitzung darüber debattiert. Poroschenkos Dekret gilt als kontrovers, da das Kriegsrecht die Exekutive mit mehr Durchgriffsrechten ausstatten und politische Freiheiten beschneiden würde. Und womöglich könnte es eine Verschiebung der Präsidentenwahl erlauben. Ukrainische Oppositionspolitiker vermuten, dass Poroschenko die für ihn problematische Präsidentenwahl im März aussetzen könnte. Denn laut Umfragen würde der seit Mai 2014 amtierende Staatschef den Urnengang aus heutiger Sicht verlieren.
Der Zwischenfall im Asowschen Meer hat den vergessenen Konflikt zwischen beiden Staaten wieder zurück auf die internationale Bühne gehievt. Die Schiffskaperung war gestern Thema im UNO-Sicherheitsrat. EU und Nato verurteilten das russische Vorgehen und riefen beide Seiten zur Zurückhaltung auf. EU-Ratspräsident Donald Tusk versprach Präsident Poroschenko eine „geeinte“Haltung Europas.
Kiew gab gestern an, die Passage wie üblich bei der russischen Küstenwache angemeldet zu haben. Man habe keine Antwort erhalten. Moskau spricht dagegen von einem Eindringen in russische Hoheitsgewässer. Seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im März 2014 versucht der Kreml, die Region – Land, Festlandsockel und Gewässer – als „russisch“zu markieren. In einer im Oktober angenommenen Resolution verurteilte das Europaparlament die militärischen und wirtschaftlichen Maßnahmen Moskaus im Asowschen Meer. Russland versuche damit, so heißt es an einer Stelle, das Gewässer als „internen See“zu definieren. Auch Schiffe von Drittstaaten seien ungebührlichen Kontrollen und Anhaltungen ausgesetzt.
Beide Seiten dürfen Meer nutzen
Dass der Kreml mit seiner Auslegung gegen internationale Rechtsnormen verstößt und sich unangenehme Sanktionen eingehandelt hat, nimmt er in Kauf. Wie der sonntägliche Vorfall zeigt, schreckt man auch vor Gewaltanwendung nicht zurück. Fakt ist, dass ein 2003 geschlossener Vertrag sowohl ukrainischen als auch russischen Marine- und Handelsschiffen die Nutzung des Meeres samt der Meerenge gestattet.
Nadelöhr ermöglicht Kontrolle
Für die Ukraine ist die Straße von Kertsch der einzige Zugang zu den wichtigen Häfen von Berdjansk und Mariupol. Für die Mariupoler Stahlindustrie dient traditionell der Wasserweg als Transportstraße der Erzeugnisse. Doch die zehn Kilometer lange und stellenweise nur vier Kilometer breite Passage zwischen Schwarzem Meer und Asowschem Meer ist ein Nadelöhr – das seit der Krim-Annexion von russischer Seite allein kontrolliert wird. Häufig müssen ukrainische und ausländische Schiffe mehrere Tage warten, bevor sie Einlass bekommen. Schiffe werden von russischen Behörden inspiziert, die das mit einem gesteigerten Sicherheitsrisiko argumentieren. Die angespannte Sicherheitslage hat spürbare Einbußen für die regionale Wirtschaft zur Folge.
Am Montag war die Meerenge von Kertsch wieder für den Schiffsverkehr geöffnet. Ein Ende der Spannungen im seichten Gewässer bedeutet das aber noch nicht.