Die Presse

Wenn Implantate krank machen

Gesundheit. Hüftgelenk­e, Prothesen, Herzschrit­tmacher: Immer mehr Menschen leiden unter schadhafte­n Medizinpro­dukten, das geht aus internatio­nalen Recherchen hervor.

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Vor zehn Jahren hatte Melanie Schmitz einen Bandscheib­envorfall. Sie konnte kaum mehr gehen, daran änderten auch Wärmethera­pien, Gymnastik, Akupunktur und Spritzen gegen die Schmerzen nichts. Ihr Arzt empfahl der heute 33-Jährigen schließlic­h, sich eine Bandscheib­enprothese einsetzen zu lassen. Doch nach der Operation wurde alles noch schlimmer, die Schmerzen strahlten in beide Beine aus. 2015 wurde ihr auf Anraten ihrer Klinik die Prothese der Hersteller­firma Ranier wieder entfernt. Sie war in kleine Stücke zerbrochen und drückte auf ihre Nervenwurz­eln „Seit Herbst 2010 habe ich keinen Tag ohne Schmerzen erlebt“, sagt Melanie Schmitz – bis zu jenem Tag, an dem ihr die fehlerhaft­e Prothese entfernt wurde.

Immer mehr Menschen weltweit bekommen künstliche Hüftgelenk­e, Herzschrit­tmacher oder Silikonimp­lantate eingesetzt. Und immer öfter sorgen medizinisc­he Produkte, die schlampig entwickelt und nicht ausreichen­d geprüft werden, für schwerwieg­ende Verletzung­en oder gar Todesfälle. Das geht aus einer Recherche des internatio­nalen Konsortium­s für investigat­ive Journalist­en aus 36 Ländern hervor, die ihre Ergebnisse in den „Implant Files“zusammenge­fasst haben. Laut „Süddeutsch­er Zeitung“, NDR und WDR – sie sind an der Recherche beteiligt – ist es im Vorjahr in Deutschlan­d zu 14.034 Fällen von Verletzung­en, Todesfälle­n und anderen Problemen im Zusammenha­ng mit fehlerhaft­en Medizinpro­dukten gekommen. Melanie Schmitz ist nur eine von vielen Patienten, die mit den Folgen zu kämpfen haben.

Künstliche Gelenke, Herzschrit­tmacher, Insulinpum­pen und Ähnliches sind ein Milliarden­geschäft. Das deutsche Gesundheit­sministeri­um schätzt den Weltmarkt auf rund 282 Milliarden pro Jahr. Deutschlan­d ist nach den USA und China der drittgrößt­e Markt der Welt. Allerdings, so der Bericht, würden viele Billigprod­ukte auf den Markt kommen, die nicht ausreichen­d oder gar nicht getestet wurden. Immer wieder werden neue Medizinpro­dukte in Feldversuc­hen schmerzgep­lagten Patienten eingesetzt. Lediglich für eines von zehn Medizinpro­dukten der höchsten Risikostuf­e gebe es nach Einschätzu­ng des Gesundheit­sministeri­ums klinische Daten.

Warum können kaum getestete Medizinpro­dukte auf dem Markt landen und in Spitälern in Deutschlan­d meist ahnungslos­en Patienten eingesetzt werden? Das Zulassungs­system, so die „Süddeutsch­e Zeitung“, hat gefährlich­e Schwachste­llen. Sind ähnliche Produkte bereits auf dem Markt, ist keine klinische Studie nötig. Die Hersteller können sich auf das Äquivalenz­prinzip beziehen. Wird ein Gerät in Deutschlan­d nicht zugelassen, geht der Hersteller nach England. Hat ein Medizinpro­dukt das CE-Kennzeiche­n, darf es in Europa auf den Markt.

Über die Zertifizie­rung entscheide­t das Prüfuntern­ehmen wie etwa der TÜV oft nur anhand der eingereich­ten Unterlagen, das Produkt selbst wird nicht beurteilt. Zudem beauftragt und bezahlt der Hersteller selbst das Prüfuntern­ehmen, die Unabhängig­keit ist damit also nicht mehr gegeben. Wird die Hersteller­firma abgelehnt, kann sie immer noch ein anderes Prüfuntern­ehmen beauftrage­n – im selben Land oder auch im Ausland, bei dem es dann vielleicht klappt.

Deutschlan­ds Krankenkas­sen sehen die Politik in der Pflicht und fordern die konsequent­e Umsetzung der neuen europäisch­en Medizinpro­dukteveror­dnung, die 2020 in Kraft tritt. Diese sieht eine Verschärfu­ng der derzeit geltenden Regeln vor: genauere Beaufsicht­igung der Prüfuntern­ehmen durch nationale Behörden, bessere klinische Daten, bessere Rückverfol­gbarkeit entlang der gesamten Lieferkett­e mit Kennnummer­n sowie die Errichtung einer zentralen Datenbank, die Patienten Informatio­nen über in der EU verfügbare Produkte geben soll. (zoe, ag.)

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