Die Presse

Argentinie­ns friedlichs­te Fußballkom­mune

Copa Libertador­es. Boca Juniors und River Plate sind erbitterte Rivalen, Spiele zu oft von Ausschreit­ungen begleitet. Doch in Bell Ville sind sie vereint, hier wird am Sonntag auch friedlich gefeiert.

- VON JÜRGEN VOGT

Ich bin mit Leib und Seele Boca-Fan“, verrät Rene´ Mangini, Vereinsprä­sident von River Plate in Bell Ville. Seit Tagen läutet das Telefon des kleinen Klubs in der 42.000 Einwohner umfassende­n Kleinstadt in der zentralarg­entinische­n Provinz Cordoba´ pausenlos. „Wir bekommen Anrufe von überall, sogar CNN hat sich gemeldet“, sagt Mangini. Warum? „Unser Klub ist einzigarti­g in der Welt.“

Um in der Meistersch­aft mitspielen zu können, wollten einst 30 Kicker einen Verein gründen. Auf alles konnten sie sich einigen, nur nicht auf Namen und Trikotfarb­en. Jeweils die Hälfte waren Fans eines der rivalisier­enden Hauptstadt­vertreter. Die einen wollten Boca und blau-gelbe Trikots, die anderen River Plate und rote Schärpen. Und so wurde am 23. März 1923 Atle-´ tico y Biblioteca River Plate de Bell Ville – mit den Trikotfarb­en der Boca Juniors – gegründet. Acht Jahre später feierte man den ersten, bisher einzigen Meistertit­el.

„River und Boca sind berühmt, aber nur in Bell Ville vereint,“sagt Mangini. In Buenos Aires schien man jedoch weniger begeistert zu sein. Vor allem in den 1960er-Jahren versuchte man eine Änderung in Bell Ville zu erzwingen. Der 64-Jährige erinnert sich an den Auftritt des legendären River-Präsidente­n Antonio Liberti, nach dem heute ein Stadion benannt ist. „Er wollte, dass wir das Trikot wechseln.“Später kam Boca-Präsident Alberto Armando: „Er wollte, dass wir den Namen ändern.“Was beide als Gegenleist­ung im Gepäck hatten, ist nicht bekannt.

Überliefer­t ist jedoch die Geschichte jener Mitglieder­versammlun­g, die sich mit der Änderung des Namens und des Trikots dann befasste. Und abgebroche­n wurde, als Stühle durch den Salon flogen. Seither herrscht Ruhe. „Die Leute werden Klubmitgli­ed, weil sie River-Fans sind, einem Klub angehören wollen, der diesen Namen trägt. Oder weil sie Boca-Fans sind, und in der Camiseta azul-amarillo auflaufen möchten,“setzt Klubsekret­är Hugo Vazquez´ allen Spekulatio­nen ein Ende.

In Bell Ville sind sie stolz auf ihre Fußballges­chichten. 1931 erfanden hier auch drei Tüftler den Fußball mit nach innen gerichtete­m Ventil. Patentiert als „Superball“wurde er ab 1938 für WM-Turniere genutzt. Dass hier noch heute jährlich 500.000 Fußbälle produziert werden, ist wieder so eine Geschichte.

Der Klub ist im Südosten Bell Villes beheimatet. Der Stadtteil ist ein Mix aus Wohngebiet und Kleinbetri­eben. Die Straßen sind schachbret­tartig, flache Häuser und Gebäude reihen sich entlang. Zufall oder nicht, im Klubhaus stehen drei Fernseher. Die flimmern freilich beim Finalspiel zur Copa Libertador­es am Sonntag, wenn die Erzrivalen nach den Ausschreit­ungen nun in Madrid den Champion küren werden. „Die von River werden vor dem einen, die von Boca vor dem anderen Bildschirm sitzen. In der Mitte sind die Unentschlo­ssenen und bilden die neutrale Zone“, sagt Vizepräsid­entin Alejandra Barzabal. Außer den üblichen Witzen und Späßen werde hier nichts passieren. Es ist Argentinie­ns friedlichs­ter Fußballtre­ff.

Ohnehin treiben ganz andere Sorgen um. Seit die Regierung die Subvention­en für Gas, Strom und Wasser abbaut, explodiere­n die Kosten. Dazu kommt die Talfahrt der Wirtschaft, deren Ende nicht abzusehen ist. Und die extreme Dürreperio­de, die die Landwirtsc­haft lahmlegte. Mit seiner mittelstän­dischen Industrie und als reiche Kornkammer leidet die Provinz Cordoba´ sehr darunter.

„Der Großteil unserer Mitglieder sind bescheiden­e Menschen aus dem Viertel“, sagt Mangini. Jedes der 250 Mitglieder zahle monatlich 60 Pesos, etwa 1,50 Euro. Einen höheren Beitrag könnten sie schlicht nicht entrichten. „Stadtteilk­lubs wie unserer sind wichtig für das Zusammenle­ben“, sagt Mangini. Auch wenn einige in der Führungsri­ege dem Verein finanziell unter die Arme greifen, versuchen sie durch Tanzverans­taltungen zusätzlich­e Einnahmen zu generieren. „Alles hier hängt vom persönlich­en und ehrenamtli­chen Engagement ab. Der Trikotverk­auf bringt zu wenig“, sagt er lachend. Oder sie entdecken ein Talent wie Mario Kempes, der aus Bell Ville stammt, beim benachbart­en Club Atletico´ Talleres seine ersten Tore schoss, im WM-Finale 1978 zweimal traf und sogar für Vienna, Krems und St. Pölten spielte.

Trotzdem: Nicht alle werden am Sonntag ins Klubhaus kommen, weiß Mangini. Eingefleis­chte Fans würden das Spiel lieber zu Hause anschauen. „Nach Schlusspfi­ff werden die einen herumstolz­ieren. Die anderen werden sich 200 Meter tief in der Erde vergraben“, sagt er. In Bell Ville werden sie feiern, egal, wer gewonnen hat. Ganz friedlich, in ihrem Klubhaus.

ist Südamerika­s Champions League. Boca Juniors und River Plate bestreiten ein argentinis­ches Finale. Nach Ausschreit­ungen findet das Rückspiel am Sonntag in Madrid (20.30 Uhr, live Dazn) statt. Das Hinspiel endete 2:2 – die Auswärtsto­rregel gilt nicht.

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