Trost, Träume, Holterdiepolter
Pop. Paul McCartney, der sanfte Beatle mit dem speziellen Twist, zeigte sich beim ersten von zwei ausverkauften Konzerten in der Wiener Stadthalle von vielen Seiten.
Es ist nicht überliefert, ob Alexei Grigorjewitsch Stachanow, jener berühmte Bergbauarbeiter, der die einst in der Sowjetunion gültige Arbeitsnorm ums bis zu 13-Fache überschritten hat, je etwas von den Beatles gehört hat. Zeitlich wäre es sich ausgegangen, hat doch dieser Held der Arbeit bis 1977 gelebt. Über die Eröffnungsnummer von Paul McCartneys Konzert hätte er sich wohl gefreut: „A Hard Day’s Night“, diese Ode an den Dreiklang von harter Arbeit, treuer Liebe und trautem Heim, passt in den Staatssozialismus genauso gut wie in den frei flottierenden Kapitalismus.
Mit dem Halbsatz „I’ve been working like a dog“holte McCartney gleich zu Beginn all jene ab, die direkt von der Maloche in die Stadthalle gekommen waren. Bezüglich Plansollüberfüllung steht er Stachanow in nichts nach: 36 Songs (wenn man das kurze Cover von Jimi Hendrix’ „Foxy Lady“dazuzählt: 37), fast drei Stunden Nettospielzeit, allerhand für einen 76-jährigen, der freilich um locker 20 Jahre jünger wirkte. Und erstaunlich für einen Mann, der eigentlich zur Musik gestoßen ist, weil er die Mühen eines normalen Tagesjobs vermeiden wollte.
Vital griff er inmitten seiner seit 19 Jahren konstanten Band in die Bassgitarre, zerrte lustvoll an den Saiten, damit „Save Us“, dieses raffinierte Stück kooperativer Geräuscherzeugung, auch richtig in die Eingeweide fuhr. Der Brite sagt „visceral“zu dieser heftigen Wirkweise.
Doch nur sinnlos die Stille zu zerreißen genügt einem McCartney nicht. Er liefert allerlei mit: eine sinnige Pointe, ein Quäntchen Trost oder, wenn’s sein soll, gleich eine waschechte Erlösung. Dann zerfällt die Zeit in kleine Splitter, man ahnt die Ewigkeit im Augenblick. So passiert bei „My Valentine“, dem innigen Minnelied an Gattin Nancy Shevell: eine Komposition, die keinen Vergleich mit den besten Beatles-Balladen zu scheuen braucht. Oder auch bei „Let It Be“, diesem Hohelied auf das, was Helmut Qualtinger einmal die edelste Nation nannte: nämlich die Resignation. McCartney zelebrierte sie am Flügel und entzündete am Ende ein kleines Licht der Hoffnung: „And when the night is cloudy, there is still a light that shines on me“, eine private Halluzination, zugleich ein begehbarer Traum für mindestens drei Generationen.
Anders als Bob Dylan verweigert sich McCartney der permanenten Neudeutung seiner Lieder. Das gebieten einerseits die Texte, die nicht so überdeterminiert sind wie jene von Dylan. Andererseits die schönen Melodien, die McCartney nicht zu opfern gewillt ist. „I try to please the average punter“, pflegt er Kritikern zu sagen, die ihn wagemutiger bei Setlist und Ausführung sehen wollen. Lieber mischt er Neues und Bewährtes. Das gelang auch an diesem Abend in schönster Dynamik. „Who Cares“vom aktuellen Album „Egypt Station“, mit dem er nach 36 Jahren Pause wieder Platz eins in den USA erreicht hat, schmiegte sich gut an den Beatles-Klassiker „Got to Get You into My Life“an, der, wenn man kundigen Exegeten Glauben schenkt, eine Liebeserklärung an das Heilkraut Marihuana ist. Und das nicht ganz in unsere spießige CorrectnessÄra passende „Fuh You“flutschte ideal aus dem wehmütigen „Eleanor Rigby“, das 1970 übrigens auch Udo Jürgens interpretiert hat.
In „Being for The Benefit of Mr. Kite“deklinierte McCartney die Verheißungen von Kirmes und Jahrmarkt mit spielerischem Duktus in seiner an diesem Abend manchmal strapaziert klingenden Stimme: ein willkommener Rückgriff aufs legendäre Opus „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“. Ein Highlight war auch „I’ve Just Seen A Face“, ein Liebeslied der Marke „Hier bin ich, mach irgendwas mit mir“. Auch viele nach der Beatles-Zeit entstandene Lieder McCartneys haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. „Live And Let Die“und „Let Me Roll It“aus seiner Phase mit den Wings etwa. Oder die eindringliche Ballade „Maybe I’m Amazed“. Das Ukulele-Schunkellied „Dance Tonight“widersetzt sich hingegen noch der Aufnahme in den Kanon: Seltsam, dass McCartney ausgerechnet dieses banale Liedchen aus dem an attraktiven Melodien so reichen Album „Memory Almost Full“ausgewählt hat. Wesentlich wurde er dafür mit einer beseelten Version von „Blackbird“, einem Lied, das er für die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung komponiert hat, wie er im Konzert ausplauderte.
Obwohl Paul McCartney geschickt aus seinem riesigen Repertoire wählte, war es ihm nicht möglich, seine gesamte stilistische Breite auszuschöpfen. Schottische Walzer („Mull of Kintyre“), elektronische Experimentalmusik („Firemen“) und psychedelischen Avantgardismus („Carnival of Light“), musste er auslassen. Mit dem Rock’n’RollKracher „Helter Skelter“, der karibischen Kindernummer „Ob-La-Di, Ob-La-Da“und dem ewig attraktiven „Hey Jude“setzte er gegen Ende auf die Magie des Wiedererkennens. Das waren Lieder wie begehbare Träume. Das sanfte Toben, das sie auslösten, ist ihrem Urheber Lebenselixier. Dieser ewig junge Meister wird wohl wiederkommen.