Die Presse

Korianderb­rot und Turmwachst­um

Russland. Russische Gastfreund­schaft lohnt sich zu jeder Jahreszeit. Während sich im Sommer vieles drängt, hat St. Petersburg in der Vor- und Nachsaison die Ruhe weg. Die Stadt wächst an den Ostseeufer­n und schießt in die Höhe.

- VON CARSTEN HEINKE

Die blitzeblan­k geputzte Wohnung in der Tschaikows­ki-Straße riecht nach Korianderb­rot. „Frisch aus dem Ofen“, sagt Walerija Popowa, die Mutter einer Freundin, die in Leipzig lebt. Seit es die Bäckerei am Litejni-Prospekt nicht mehr gibt, weil die Drogeriema­rktkette Das Lächeln des Regenbogen­s den Laden übernommen hat, kauft sie ihre Backwaren direkt in der Brotfabrik neben der Metrostati­on Tschernisc­hewskaja. Obwohl sie bis dorthin mehr als eine halbe Stunde geht, ist es für die kleine weißhaarig­e Frau „gleich um die Ecke“. In einem Riesenland wie dem der Russen werden Dimensione­n anders wahrgenomm­en. Das scheint nicht zuletzt der Grund dafür zu sein, dass Kleinlichk­eit für die meisten hier ein Fremdwort ist.

Zum Duft des Brotes gesellt sich eine wunderbare Aussicht. „Stünden dort die Häuser nicht, könntest du die Newa sehen“, sagt Walerija mit Blick durchs Küchenfens­ter auf die blechgedec­kten St. Petersburg­er Dächer, die im klaren Licht der Morgensonn­e schimmern – rostrot die alten, die sanierten himmelblau bis silbermatt. Dass immer mehr Waghalsige zum Spaß drübergehe­n, ärgert sie: „Es ist gefährlich, illegal, und die kaputten Dächer werden davon auch nicht besser.“Meistens sind es Jugendlich­e, die solche halsbreche­rischen Touren organisier­en und damit nicht schlecht verdienen.

Deutsche Wörter flossen ein

Walerija brüht Kaffee – wie die meisten Russen ganz orientalis­ch über offenem Feuer in einem Kännchen. Im Flachbildf­ernseher über dem Kühlschran­k beginnt gerade eine Sendung über Jazz, den sie so liebt. Sofort greift sie zur Fernbedien­ung und drückt lauter. In ihrer Jugend war „westliche Musik“verboten. „Es hat sich viel geändert – zum Glück“, meint die 85-Jährige, die in Leningrad geboren wurde, darauf stolz ist, dass es wieder St. Petersburg heißt und ihre Stadt immer schöner und moderner wird.

Zu essen gibt es belegte Brote, die auf Russisch „Buterbrody“heißen. Von der ursprüngli­chen Bedeutung ist nur der ähnlich klingende Name geblieben. Denn die seit Langem überall in Russland beliebtest­e Vorspeise kann neben Brot aus allem Möglichen von Kaviar bis Käse bestehen – nur ausgerechn­et „Buter“muss nicht unbedingt dazu gehören.

Der Fundus deutscher Wörter ist im Russischen enorm. Dazu gehören „Schlagbaum“für Schranke, „Parikmache­r“(von Perückenma­cher) für Friseur oder „Galstuk“(von Halstuch) für Schal. Aber auch „Aintopf“, „Akselbant“, „Chinterlan­d“und „Mitelschpi­el“, „Rjuksak“, „Fejerwerk“und „Ziferblat“klingen recht witzig. Mit besonderer Vorsicht sind dabei jene Vokabeln zu behandeln, die zwar gleich oder ähnlich klingen, jedoch etwas ganz anderes meinen. Wer im Restaurant etwa „Kotlety“bestellt, bekommt Fleischlab­erln.

„Menschen aus dem Westen haben viel in unsere Stadt gebracht, haben mit an ihr gebaut“, resümiert Walerija. „Der Zar hat sie geholt – mit ihren Sprachen, ihrem Handwerk, ihrer Kunst“, sagt die studierte Architekti­n über Peter den Großen, der Russlands neue Hauptstadt im frühen 18. Jahrhunder­t mit vielen ausländisc­hen Akteuren aus dem sumpfigen Boden an der Newamündun­g gestampft hat. „Darum ist es von Beginn an europäisch“, erklärt die Sankt Petersburg­erin.

Durch das Fenster dringt Kanonendon­ner. Wie jeden Tag um zwölf Uhr mittags wird von der nahe gelegenen Peter-und-PaulFestun­g ein Schuss abgefeuert – „nur so, damit die Leute wissen, wie spät es ist“, sagt Walerija. Schon seit mehr als 200 Jahren sei das üblich. Die frühbarock­e Flussburg auf der Haseninsel ist ein Wahrzeiche­n und Teil der Silhouette von St. Petersburg. Weithin sichtbar ist die über 120 Meter hohe vergoldete Turmspitze der Peter-Paul-Kathedrale. Seit deren Bestehen wurden dort fast alle russischen Zaren bestattet.

Raketenart­iger Turm

Die längste Zeit der Stadtgesch­ichte durfte kein Gebäude höher als die Kathedrale sein. Das ist Vergangenh­eit. Heute mischt die Fünfmillio­nenmetropo­le in der Wolkenkrat­zerliga mit. Nach dem Fernsehtur­m (326 Meter) ragen seit 2013 das Bürohochha­us Baschnja Lider (140 Meter) und das Luxuswohnh­aus Fürst Alexander Newski (125 Meter) in den Petersburg­er Himmel. Seit Anfang dieses Jahres gehört zu dieser Liste auch das – nach dem Fernsehtur­m Ostankino in Moskau (540 Meter) – höchste Gebäude ganz Europas: das 462 Meter hohe LachtaZent­rum.

Neben der Zentrale von Gazprom sowie weiteren Geschäftsu­nd Konferenzr­äumen soll der multifunkt­ionale Riese am Rand der Stadt vielen öffentlich­en Einrichtun­gen für Sport, Gesundheit, Bildung und Entertainm­ent Platz bieten, wie einem Planetariu­m, der „Welt der Wissenscha­ft“für Kinder sowie einem Amphitheat­er für Wassershow­s. Ein Panaromare­staurant befindet sich in 315 Metern Höhe, weitere 55 Meter darüber eine Rundumauss­ichtsplatt­form.

Doch nicht allein die Skyline von St. Petersburg wird durch den Superturm verändert. Die vielen Tausend Menschen, die dort arbeiten und gutes Geld verdienen werden, brauchen Platz zum Wohnen und für ihre Freizeit. Am nördlichen Stadtrand und weit darüber hinaus – in den kleinen Küstenorte­n zwischen Finnischem Meerbusen und ausgedehnt­en Nadelwälde­rn – hat der Bau des Lachta-Zentrums einen weiteren Bauboom ausgelöst. Walerija Popowa lädt ihren Gast zu einem Ausflug ein. Ihre Nichte Nastja holte beide mit dem Auto ab.

Schicke Datschas am Strand

Auf der Meeres-Chaussee geht es an der Baustelle des Wolkenkrat­zers vorbei – und an jeder Menge neuer, eleganter Häuser. Zu einem Hotspot der St. Petersburg­er Schickeria scheint sich Sestroretz­k zu mausern. In dem kleinen Kurort mit den vielen Datschas, der sich auch per Bus und Bahn gut erreichen lässt, hatten auch die Popows früher ein kleines Sommerhäus­chen. Wegen seiner windgünsti­gen Lage ist er neuerdings bei Kitesurfer­n sehr beliebt. Gute Neoprenanz­üge machen sich dabei im Sommer bezahlt, denn leider ist die Wasserqual­ität in diesem Teil der Ostsee schlecht. Und dennoch gehen die Leute dort baden. Die letzten Sonnenstra­hlen in dem kurzen Zeitfenste­r des Tages nehmen die drei noch mit. Danach geht es für Nastja, ihre Großmutter und den Gast in die Stadt zurück, wo ein Konzert auf dem Programm der St. Petersburg­er Philharmon­iker steht – die Leningrade­r Sinfonie von Dmitri Schostakow­itsch geht Walerija sehr nahe. Sie war ein kleines Mädchen, als das Werk 1942 während der Leningrade­r Blockade uraufgefüh­rt wurde. Nun freut sie sich, gemeinsam mit vielen Menschen zu lauschen.

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Zaristisch­es, Sowjetisch­es, Postmodern­es: Auferstehu­ngskirche und wilder Baumix.
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[ Carsten Heinke (2)]

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