Die Presse

Feine kulturelle Schnittmen­ge im Elsass

Frankreich. Eine Reise in das Elsass muss man nicht in Straßburg beginnen. Reizvoll ist es auch, den östlichste­n Teil Frankreich­s vom Süden her zu erkunden: rheinabwär­ts bis zur Hauptstadt der Region.

- VON NORBERT MAYER

Wir nähern uns dem Elsass also von der Schweizer Grenze her, nach einem Direktflug von Wien nach Basel/ Mülhausen. Der Airport hat eine Besonderhe­it: Man kann ihn über einen Schweizer Ausgang verlassen, via eine Korridorau­tobahn zu den Eidgenosse­n, oder über einen französisc­hen. Wir nehmen Letzteren und fahren in das nahe gelegene Mulhouse. Mit 110.000 Einwohnern ist es die größte Stadt des Oberelsass (Departemen­t´ HautRhin), um die Hälfte größer noch als die Verwaltung­szentrale Colmar weiter nördlich.

Mulhouse, bis heute ein wichtiger Standort für Automobili­ndustrie, Maschinenb­au, Elektronik und Chemie, wurde im Jahre 803 erstmals urkundlich erwähnt. Man spürt hier inzwischen den Charme leicht verlebten Großbürger­tums, auch die ersten Arbeitersi­edlungen Frankreich­s zeigen noch, wie dynamisch die Entwicklun­g einst war. In den vergangene­n Jahrzehnte­n durchlitt die Stadt aber den Niedergang der Textilindu­strie, die sie zuvor reich gemacht hatte. Museen für Stoffdruck­e, Elektrizit­ät und Eisenbahne­n zeugen von alter Größe.

Ein fixer Programmpu­nkt für viele Besucher ist die Cite´ de l’Automobile in einer der großen ehemaligen Lagerhalle­n am Rand von Mulhouse. Der Textilfabr­ikant Fritz Schlumpf war ein Autonarr. Er begann in den Sechzigerj­ahren Oldtimer zu sammeln, bevorzugt die der Nobelmarke Bugatti. Erst war dieses Hobby ganz privat, fast heimlich. Die Firma, die er mit seinem Bruder Hans 1957 übernommen hatte, wurde Mitte der Siebzigerj­ahre ein Opfer der Textilkris­e in Westeuropa.

Die Sammlung Schlumpf mit mehr als 400 Autos aber blieb, die größte ihrer Art weltweit. Sie ist öffentlich zugänglich. Vor der Halle ist eine kleine Teststreck­e. Dort kann man gegen eine ansehnlich­e Gebühr kurz mit seinem Lieblingsa­uto im Kreis fahren. Man muss aber kein Technikfet­ischist sein, um über die anschaulic­he Geschichte des Automobils zu staunen, über Fantasiepr­odukte von Meisterhan­dwerkern. Manche Exemplare stammen noch aus dem 19. Jahrhunder­t. Es braucht Stunden, um auf 25.000 Quadratmet­ern all diese Prototypen, Luxuskaros­sen und Sportwagen zu erkunden – neben Bugattis auch die Marken Rolls-Royce, Hispano-Suiza, Isotta Fraschini, Daimler-Benz, McLaren.

Nach so vielen PS ist ein wenig ländliche Erholung angesagt. Dazu bietet sich zum Beispiel ein Ausflug in das Dorf Voegtlinsh­offen an. Ähnlich wie die Winzer in Österreich nach dem Weinskanda­l 1985 setzen deren Kollegen im Elsass neuerdings mehr und mehr auf hohe Qualität. Wein bedeute heute vor allem Vermittlun­g von Lebensart, meint der Gastgeber: Im schicken Schauraum der Maison Joseph Cattin mit seinen großen Panoramafe­nstern, mitten in den Weinbergen, hat man bei der Verkostung (vor allem der Weißweine dieser Region) einen Blick weit in die Ebene, hin zum Rhein, und die Berge der Vogesen liegen im Rücken. Seit drei Jahrhunder­ten widmet sich die 1720 aus der Schweiz eingewande­rte Familie Cattin dem Weinbau. Der exzellente Cremant´ aus diesem Haus beweist: Erfahrung ist alles.

Derart gestärkt geht es wieder zur Hochkultur. Nach zehn Kilometern erreichen wir Colmar, das Zentrum der Weinregion, dessen Geschichte ebenfalls bis in die Zeit der Karolinger zurückreic­ht. Allein wegen des Isenheimer Altars im Museum Unterlinde­n gehört der Besuch der Stadt zu den Höhepunkte­n einer Reise in den Osten Frankreich­s. Nach einer längeren Umbauphase wurde es unlängst wieder eröffnet.

Die Basler Architekte­n Jacques Herzog und Pierre de Meuron, Träger des renommiert­en PritzkerPr­eises, haben im historisch­en Kern der Stadt ein atemberaub­endes Museumsqua­rtier geschaffen, mit großzügige­n Erweiterun­gen: Vom Kloster Unterlinde­n führt eine Galerie unterirdis­ch, unter einem kleinen Fluss, in den neuen Trakt, den Ackerhof, wo Kunst des 20. und 21. Jahrhunder­ts ausgestell­t ist. In der Kapelle im alten Teil ist der weltberühm­te Wandelalta­r mit seinen getrennt ausgestell­ten Schauseite­n zu sehen. Die Bilder hat Matthias Grünewald 1512 bis 1516 für das Antoniterk­loster von Isenheim geschaffen, die Schnitzere­ien Niklaus von Hagenau. In diesem Raum gibt es stets Gedränge. Und an seinem Ende kann man den Restaurato­ren aktuell bei der Arbeit zusehen.

Für Kunstfreun­de, die auch Büchernarr­en sind, ist der Besuch von Selestat´ mindestens so wichtig wie der von Colmar. In dieser klei- nen Stadt, deren Königsburg 737 erstmals erwähnt wurde, mit ihrer ehrwürdige­n romanische­n Kirche Ste-Foy und dem gotischen Georgsmüns­ter, soll laut Überliefer­ung der erste Weihnachts­baum der Welt gestanden sein. Zumindest gibt es einen Aktenverme­rk von 1521: Man müsse dem Förster vier Schillinge bezahlen, damit er am Thomastag auf den Baum aufpasse. Entspreche­nd belebt ist im Advent der alte Ortskern mit seinen putzigen Häusern.

Aber nicht nur wegen der Christbäum­e: In Selestat´ befindet sich auch die Humanistis­che Bibliothek, die ins Unesco-Welterbe aufgenomme­n wurde. Ihr Bestand gründete auf den Büchern von Beatus Rhenanus und der örtlichen Lateinschu­le. Hunderte Handschrif­ten, Inkunabeln und 2000 Drucke werden hier aufbe- Tourismus Elsass, tourismeal­sace.com; Atout France, at.france.fr Direktflug mit Easyjet sechsmal wöchentlic­h (täglich außer Samstag) von Wien nach Basel-Mülhausen. Die Reise erfolgte auf Einladung von Atout France, TVB Elsass Alsace Destinatio­n Tourisme und Easyjet wahrt. Zu den bedeutends­ten Objekten gehören das Kapitularb­uch Karls des Großen und ein noch älteres Lektionar aus der Merowinger­zeit. Der heuer eröffnete Schauraum der Bibliothek ist multimedia­l raffiniert gestaltet. Architekt Rudy Ricciotti hat die Bibliothek neu gestaltet. Er fügte noch ein Auditorium, ein literarisc­hes Cafe,´ Lesesäle und einen Shop hinzu.

Aus der Beschaulic­hkeit von Selestat,´ verwöhnt von der so exzellente­n wie zur Üppigkeit neigenden Gastronomi­e dieses Landstrich­s (Flammkuche­n! Gugelhupf!), geht es nun ins geschäftig­e Straßburg. Die größte Stadt im Elsass, deren Ursprünge auf eine keltische Siedlung zurückgehe­n, hat nach Paris die zweitgrößt­e Universitä­t und den zweitgrößt­en Flusshafen des Landes. Natürlich wird auch diesmal das berühmte Münster besucht, dessen Turm mehr als fünf Meter höher ist als jener des Wiener Stephansdo­ms. Immer wieder findet man in dieser bedeutende­n Kathedrale, mit deren Bau 1176 begonnen wurde, neue Details in Bildern und Skulpturen (derzeit wird die Astronomis­che Uhr renoviert). Auch das Gerbervier­tel, dessen Bauten bis in die frühe Neuzeit zurückführ­en, zählt zum Pflichtpro­gramm.

Am besten aber erkundet man die Stadt mittels einer Bootsfahrt. Sie führt auch an der Neustadt vorbei, jenem weitläufig­en Viertel, dessen Ausbau vom Deutschen Reich 1871 bis 1918 mit der Einverleib­ung von Elsass-Lothringen nach dem Krieg gegen Frankreich forciert wurde. Straßburg sollte Hauptstadt einer Vorzeigere­gion werden. Man fährt an wilhelmini­schen Prunkbaute­n vorbei, gelangt in stillere Villenvier­tel. Und landet schließlic­h – in der unmittelba­ren Gegenwart. Straßburg ist eine der Hauptstädt­e der Europäisch­en Union. Nach einer halben Stunde Fahrt tauchen die Glaspaläst­e auf. Hier wollen unter anderem die Abgeordnet­en des Europäisch­en Parlaments über die Zukunft des Kontinents bestimmen. Noch weitläufig­er ist dieser Teil der Stadt als jener, der unter deutschen Kaisern hochgezoge­n wurde. Auch heute wird gern geklotzt. Rasch also zurück in die Altstadt. Im Restaurant Chez Yvonne in der Rue du Sanglier wartet eine Portion Choucroute. Solch deftigen Mahlzeiten sollen hier einst auch beherzte Staatsmänn­er wie Helmut Kohl, Francois¸ Mitterrand oder Jacques Chirac gern zugesproch­en haben.

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