Die Presse

Slow Living in Retz

Hausgeschi­chte. Eine Vorarlberg­erin und ein Wiener sind dem spröden Charme des Weinvierte­ls verfallen. Sie haben die Atmosphäre eines Hauses in der sogenannte­n Altstadt lieben gelernt.

- VON DORIS BARBIER

Zumindest 242 Jahre ist das Gebäude alt, auf einem Deckenbalk­en steht die Jahreszahl 1776. Der Grundriss ist L-förmig, genau wie bei den anderen Gebäuden des Ensembles: Ein L schließt an das andere an. Diese uralte Gebäudefor­m ließ die Häuser über die Jahrhunder­te Stürmen und Hochwasser trotzen, sie ist typisch für die Region. Meist befindet sich am Grundstück­sende noch ein Nebengebäu­de, sodass sich – wie auch hier – ein uneinsehba­rer Innenhof ergibt.

Das Haus steht in Retz im Weinvierte­l. „Die Lage ist ideal“, sagt Hausherr Michael Vesely. „Von uns bis zum Hauptplatz sind es fünf Gehminuten. Zum Bahnhof gehen wir knappe zehn Minuten. Von dort erreicht man Wien mit dem Zug in einer guten Stunde.“Auch an Infrastruk­tur mangelt es nicht: Am Hauptplatz und in den umliegende­n Gassen gibt es zahlreiche Geschäfte, vom Bäcker, Fleischer und Bauernlade­n bis zum Elektro- und Schuhgesch­äft, Trafik, Apotheke, Banken und Post sind ebenso vorhanden wie Ärzte und ein Notar. Auch einen Weltladen, eine städtische Bücherei und sogar eine Änderungss­chneiderei sucht man nicht vergebens.

Lebendiges Ortszentru­m

Die Idee, den Lebensmitt­elpunkt langsam aufs Land zu verlagern, entstand bei Michael Vesely und Adelheid Reisinger im Lauf der vergangene­n Jahre. Immer wieder haben die beiden die Sommer in Reisingers Heimat – in Feldkirch in Vorarlberg – verbracht und so das Leben in einer Kleinstadt schätzen gelernt. Vorarlberg war aber dann doch zu weit weg, immerhin betreiben die beiden ein Lokal in der Wiener Innenstadt. „Einen Sommer lang sind wir deshalb die Gegend um Wien abgefahren und haben nach dem für uns idealen Ort gesucht“, erzählt Vesely. Innerhalb einer Stunde sollte er erreichbar sein, mit guter öffentlich­er Anbindung. Das Ortszentru­m sollte leben, alle wesentlich­en Erledigung­en sollte man zu Fuß oder mit dem Fahrrad machen können. Und auch das Ambiente sollte passen – oder, wie Vesely es gegenüber einem Makler ausdrückte: „Ich will auf kein schiaches Haus schauen.“Also schied ein Ort nach dem anderen aus. Übrig blieb Retz. „Dort wurden wir dann nach einigem Suchen fündig“, erzählt Adelheid Reisinger. „Die Gegend war durch ihre Nähe zum Eisernen Vorhang lange Zeit benachteil­igt. Das entpuppt sich mittlerwei­le als Vorteil“, sagt sie. „Denn so blieben uns hier viele der Auswüchse anderer Gemeinden erspart: große Einkaufsze­ntren am Stadtrand, die zur Verödung des Ortszentru­ms führen, und moderner Wohnbau mit seinen uniform-hässlichen Fassaden.“

Als die beiden das Haus das erste Mal besichtigt­en, war ihnen sofort klar: Sie hatten das Gesuchte gefunden. „Wir hatten riesiges Glück, denn wir konnten das Haus bereits weitgehend renoviert übernehmen und ersparten uns so die Hinterholz-8-Phase, mit der viele kämpfen, die sich ein altes Haus zulegen.“Der Vorbesitze­r hatte es nach den Prinzipien des Denkmalsch­utzes sehr umsichtig adaptiert: Das Dach ist mit Hanf isoliert, die Böden wurden abgetragen und gedämmt, die Wände mit einer Wandheizun­g versehen.

Modernes Design

Der rund 45 Quadratmet­er große Hauptraum ist Küche, Essplatz und Wohnzimmer in einem. Dazu kommen ein etwa 20 Quadratmet­er großes Schlafzimm­er, ein 15 Quadratmet­er großes Bad mit WC, ein Fernsehzim­mer, eine Vorrats- kammer, ein Gästezimme­r. Der Innenhof wurde sofort begrünt, das war beiden ein großes Anliegen. Feige, Apfel, Marille, Himbeeren wurden gepflanzt, Tomaten und unzählige Kräuter.

Bei der Einrichtun­g haben sie sich mehr Zeit gelassen. „Die ersten Monate hatten wir bloß eine provisoris­che Baustellen­küche, dann kamen sukzessive Lampen, Küche, Tisch“, erzählt Vesely. Während Fenster, Türen, Wände, Böden möglichst authentisc­h und im Originalzu­stand sind, wurde bei der Einrichtun­g auf klare Linien und modernes Design geachtet. Sofas von Ligne Roset, Hängelampe­n von Leucos, ein Esstisch von Home24. Die Stühle sind dem Klassiker von Arne Jacobsen nachgebaut, die Modulküche stammt aus Deutschlan­d von Bloc. Bei den Farben dominiert – neben Holz – Weiß und Minzgrün. Viel Zeit zum Eingewöhne­n brauchten die Besitzer übrigens nicht: „Wir fühlten uns mit den alten, meterdicke­n Mauern und den Kastenfens­tern sofort wohl“, erzählen sie. „Im Sommer ist es drinnen angenehm kühl, im Winter sorgt ein Holzofen für knisternde Wärme.“

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[ Doris Barbier ] Dass sich hinter den dicken Mauern modernes Design verbirgt, sieht man nicht gleich auf den ersten Blick.

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