Die Presse

Gegensätze, Spannungen und viel Potenzial

Lateinamer­ika. Viele Bildungsan­gebote, viele Europa-Bezüge, aber kein reguläres Studium für eine besonders dynamische Weltregion – ein Blick auf die Lateinamer­ikanistik in Österreich.

- FREITAG, 7. DEZEMBER 2018 VON ERIK A PICHLER

Als die Unesco beschlosse­n hatte, für 2019 ein Jahr der indigenen Sprachen auszurufen, konnte man noch nicht wissen, welche Brisanz dieses Thema zu diesem Zeitpunkt bekommen würde. Schließlic­h treten derzeit in den beiden bevölkerun­gs- und einflussre­ichsten Staaten Lateinamer­ikas, Brasilien und Mexiko, neue Staatsober­häupter ihre Ämter an, die in ihrer Haltung zum „Indigenism­o“unterschie­dlicher nicht sein könnten. In Mexiko wurde vergangene Woche Andres´ Manuel Lopez´ Obrador als Präsident angelobt, der in seiner Partei das Institut für indigene Fragen leitete und durch die Lösung sozialer Nöte populär wurde; in Brasilien hingegen am 1. Jänner Jair Messias Bolsonaro, der aufgrund zahlreiche­r Äußerungen als rassistisc­h einzustufe­n ist, was bei indigenen Minderheit­en schlimmste Befürchtun­gen auslöst.

Extreme und Wandel

Die Amplituden ideologisc­her Gesinnunge­n sind in Lateinamer­ika so groß wie seine geografisc­he Erstreckun­g. Seine kulturelle Vielfalt ist ohnehin kaum überschaub­ar, sein wirtschaft­liches Image schwankt zwischen boomend und instabil. Lateinamer­ika sei eine lebendige Region in konstanter Transforma­tion, fasst Andrea Eberl, Geschäftsf­ührerin des Österreich­ischen Lateinamer­ika-Instituts (LAI) in Wien, ihre Sicht auf diese Weltgegend zusammen. „Starke Gegensätze wie Zerstörung und Nachhaltig­keit, Frieden und Unsicherhe­it, Überfluss und Mangel kennzeichn­en sie.“

Ab Herbst 2019 wird das LAI erstmals die neue Weiterbild­ungsreihe „Lateinamer­ika“anbieten, die sich an Mitarbeite­r von NGOs, aber auch an Firmen und interessie­rte Privatpers­onen richtet. An vier Wochenende­n werden sich die Teilnehmer mit den Themen Inklusive Politik, Alternativ­e Wirtschaft­sformen, Ökologie/Lebensräum­e und Geschichte und Kultur beschäftig­en. Der Lehrgang wolle das Verständni­s und das Engagement für alternativ­e Lebensform­en und Lebenswelt­en fördern, aber auch das Potenzial Lateinamer­ikas aufzeigen, sagt Eberl. „Wichtige Daten und Fakten sowie aktuelle Themen werden aus einer Perspektiv­e von Inklusion, Diversität, Widerstand und Gleichbere­chtigung analysiert und diskutiert.“

Das Lateinamer­ika-Institut plant zudem, zunehmend Veranstalt­ungen in den Bundesländ­ern anbieten. So wird es ab April 2019 in Kooperatio­n mit dem Haus der Begegnung in Innsbruck eine Vortragsre­ihe unter dem Titel „Begegnunge­n mit Lateinamer­ika/Encuentros con America´ Latina“geben.

An Universitä­ten wird Lateinamer­ikanistik in Österreich hauptsächl­ich auf Forschungs­ebene betrieben, so gibt es Forschungs­gruppen an der Boku und der TUWien, am Geografie-Institut der Universitä­t Innsbruck und Einzelinit­iativen in den diversen Romanistik- und Amerikanis­tik-Fachbereic­hen. Sehr aktiv ist die Latein- amerika-Forschungs­gruppe des Instituts für Politikwis­senschaft der Uni Wien, die jedes Semester per Mailinglis­te einen Überblick über das Lateinamer­ika-bezogene Lehrverans­taltungsan­gebot der Universitä­t gibt. Am breitesten aufgestell­t sei derzeit wohl die Vorlesung „Einführung in die Lateinamer­ikanistik – (Wander-)Bewegungen von Menschen, Gütern und Ökosysteme­n“, sagt der Leiter der Forschungs­gruppe, Ulrich Brand.

Blick auf alle drei Amerikas

An der Karl-Franzens-Universitä­t Graz bietet das Zentrum für InterAmeri­kanische Studien die Möglichkei­t, im Rahmen der freien Wahlfächer ein Zertifikat in „InterAmeri­can Cultural Studies“zu erwerben. Die Grazer Interameri­kanistik will überfakult­är alle drei Amerikas – Nord-, Mittel- und Südamerika – in den Blick nehmen und folgte mit dieser Ausrichtun­g vor zwölf Jahren der Empfehlung einer universitä­tsweiten Evalua- tion. Ein großes Thema sei auch die Beziehung zwischen Amerika und Europa. „Es geht darum, wie wir als Europäer mit dem Kontinent Amerika umgehen. Teilweise betreibt Europa eine Art Kindeswegl­egung“, sagt Roberta Maierhofer, Leiterin des Zentrums. Immerhin hätten Europa und auch Österreich eine wesentlich­e – und nicht immer nur positive – Rolle in der amerikanis­chen Geschichte gespielt. Das Bewusstsei­n dafür verändere auch die Haltung zur eigenen Geschichte und die euro- päische Identität. Maierhofer­s Wunsch wäre, das heutige Zertifikat zu einem Masterstud­ium oder Joint Degree weiterzuen­twickeln.

Akademisch unterreprä­sentiert

Sollte dies gelingen, wäre es wohl eine wichtige Initiative auch für die Lateinamer­ikanistik. Denn in Österreich ist diese Disziplin, zu der an deutschen Universitä­ten sieben Bachelor- und Masterstud­ien angeboten werden (etwa „Interdiszi­plinäre Lateinamer­ikastudien“an der Freien Universitä­t Berlin, „Kulturstud­ien zu Lateinamer­ika“in Bonn oder „Regionalst­udien Lateinamer­ika“in Köln), nicht in Form regulärer Studien präsent. Das bisher einzige Programm, das zu einem akademisch­en Grad führt, ist im Auslaufen: Der vom LAI konzipiert­e Masterlehr­gang Interdiszi­plinäre Lateinamer­ika-Studien am Postgradua­te Center der Universitä­t Wien endet im September 2019 und kann aus finanziell­en Gründen nicht fortgeführ­t werden.

 ?? [ LAI ] ?? Indigene Völker stehen im Fokus eines Workshops des Lateinamer­ika-Instituts, das auch eine Kulturreis­e nach Bolivien organisier­t.
[ LAI ] Indigene Völker stehen im Fokus eines Workshops des Lateinamer­ika-Instituts, das auch eine Kulturreis­e nach Bolivien organisier­t.

Newspapers in German

Newspapers from Austria