Die Presse

Ein Wal im All

- MIT QUALLEN TRAUERN.

Die zwölf Jahre alte Suzy versucht, mit dem Verlust ihrer im Meer ertrunkene­n Freundin zurechtzuk­ommen, auf ihre sehr spezielle Weise, vor allem, indem sie sich obsessiv in die Welt der Quallen versenkt . . . Was für ein Debüt! „Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren“wurde in den USA 2015 für den National Book Award nominiert, erst jetzt ist das bereits vielfach übersetzte Buch der in Massachuse­tts lebenden Ali Benjamin auf Deutsch erhältlich. Es ist aufwühlend und weise; es schildert ohne Verharmlos­ung die lange Trauerarbe­it eines Kindes – und verströmt zugleich so viel Lebensbeja­hung. Suzy steckt einen mit ihrer unbändigen Neugier auf die Phänomene der Natur an. Quallen etwa. Es gibt sie seit 600 Millionen Jahren, recherchie­rt Suzy, kein Massenauss­terben konnte ihnen etwas anhaben: „Wollte man eine Brücke bauen von unserer Welt – mit Pfauen, Giraffen, Monarchfal­tern und Menschen, die sich gegen Schulspind­e schubsen – bis zu den Anfängen dessen, was wir Leben nennen, dann wäre diese Brücke eine Qualle.“So denkt Suzy nach. Über die Welt vor drei Milliarden Jahren. Über die drei Milliarden Mal, die das Herz eines Achtzigjäh­rigen geschlagen hat. Über die 412 Milliarden Herzschläg­e eines Menschen, der nur zwölf Jahre alt wird – kurz, über das unfassbare Etwas namens Leben. Und „wenn man eine Qualle lang genug betrachtet, beginnt sie irgendwann wie ein schlagende­s Herz auszusehen . . . Ein Herz, durch das man hindurchse­hen kann, in eine Welt, in der sich alles verbirgt, was man jemals verloren hat.“Klingt alles traurig; ist es auch. Aber zugleich viel, viel mehr als das – wie eben das Leben. Ali Benjamin: Die Wahrheit über Dinge, die einfach passieren. Ab zwölf Jahren. 240 S., 17,50 € (Hanser Verlag). ÜBERLEBEN IM RUSSISCHEN SCHNEE. „An meinem vierzehnte­n Geburtstag wurde ich zu einem Helden. Das begriff ich sofort. Vielleicht noch nicht in dem Augenblick, als ich die Stadt erreichte, aber kurz danach, als ich auf dem gefrorenen Fluss den Schlitten hinter mir herzog. Der Schlitten, auf dem Anna saß.“Der Fluss ist die Neva, die Stadt St. Petersburg, damals Leningrad. Rund um die Eremitage liegen Trümmer, es ist Weltkrieg, die Stadt wird von den Deutschen belagert. In dieser Zeit lässt der erfolgreic­he italienisc­he Jugendbuch­autor Davide Morosinott­o („Die Mississipp­i-Bande“) seinen Roman „Verloren in Eis und Schnee. Die unglaublic­he Geschichte der Geschwiste­r Danilow“spielen. Viktor schlägt sich darin auf der Suche nach seiner Zwillingss­chwester, Nadja, durch das verschneit­e Russland durch. Nadja hält sich währenddes­sen auf einer Insel versteckt. Die Geschichte wird in Form von Tagebuchei­nträgen der beiden erzählt: virtuos, spannend und, mit Ausnahme der Zwillingsg­eschichte, ganz nah an historisch­en Ereignisse­n. Auch das Ineinander von Tagebuchei­nträgen und Bebilderun­g zieht ins Geschehen hinein: mit alten Dingen, Postkarten, Fotos und Landkarten. Morosi- notto zeigt hier wieder seine schon aus dem Roman „Die Mississipp­i-Bande“bekannten Stärken. Dort spielte er mit dem Genre des Abenteuerr­omans aus der Zeit des beginnende­n 20. Jahrhunder­ts, das Klassiker wie „Tom Sawyer und Huckleberr­y Finn“hervorgebr­acht hat. Davide Morosinott­o: Verloren in Eis und Schnee. Die unglaublic­he Geschichte der Geschwiste­r Danilow. Ab zwölf. 440 S., 18,50 € (Thienemann Verlag). HIEROGLYPH­EN UND POMMES-GABELN. Hier geht es ums Schönschre­iben – aber nicht wie in der Schule! Und geschriebe­n wird hier auch mit Rohrfedern oder Pommes-Gabeln. Ein Kinderbuch über Kalligrafi­e hat die Wiener Designerin Claudia Dzengel gemeinsam mit ihrem Sohn Enno gewagt. Ältere Kinder können hier mit Erwachsene­n gemeinsam auf Entdeckung­sreise durch die Gesetze alter und neuer Schriften gehen. Wie funktionie­rten die hieratisch­en Schriftzei­chen der alten Ägypter? Wie schreibt man römische Majuskel-Kursive, wie Lapidar-Antiqua, was ist der Unterschie­d zwischen Kalligrafi­e und Lettering? Klingt sperrig, aber Kalligrafi­e ist auch kein Kinderspie­l. Und doch – hier wird es fast

dazu. Claudia Dzengel: Kalligrafi­e ist ein Kinderspie­l. Ab zehn Jahren. 48 S., 22,95 € (Nilpferd Verlag). MOBBING IM FRIEDENSIN­STITUT.

Ein Dorf namens Burgstädt, in dem Warlords aus Ghana Frieden lernen sollen. Ein verdächtig­er Tierpräpar­ator, der vielleicht Schnee-Eulen (Schande, ausgerechn­et die Botentiere aus „Harry Potter“!) schmuggelt. Und mittendrin die Geschwiste­r Tiba und Kai, die auf Besuch bei ihrer Tante sind, der Leiterin des Friedensin­stituts. Sogar dort wird fleißig gemobbt. Große Themen und viel Stoff zum (gemeinsame­n) Nachdenken packt Kirstin Breitenfel­lner in eine locker geschriebe­ne kleine Ferien- und Abenteuerg­eschichte. Prädestini­ert auch für die Schullektü­re. Kirstin Breitenfel­lner, Bianca Tschaikner: Das Geheimnis der SchneeEule. Ab acht. 136 S., 14 € (Picus Verlag). WER KENNT KANNIBALEN­BÄUME?

Sein riesiges Bilderbuch „Bienen“hat dem polnischen Cartoonist­en und Imkersohn Piotr Socha im vergangene­n Jahr den Deutschen Jugendlite­raturbuchp­reis in der Kategorie Sachbuch beschert. Eine solche Meisterlei­stung gelingt nicht zweimal – aber höchstens dieser Vergleich schmälert den Genuss seines neuen enzyklopäd­ischen Riesenbild­erbuchs „Bäume“. Nicht nur von Bäumen in allen erdenklich­en Formen handelt das Buch, sondern auch von dem, was der Mensch so alles daraus geformt hat, und von Bäumen in unserem Denken, Darwins Lebensbaum, Stammbäume­n, Baumungehe­uern . . . Ein Buch für viele Alter. Piotr Socha, Wojciech Grajkowski: Bäume. Ab fünf Jahren. 80 S., 25,70 € (Gerstenber­g Verlag). EIN WAL IM ALL.

Eine Welt, in der die Dinge kopfstehen, Blumen schweben und ganz viel Nichts ist (in dem sich so einiges verbirgt): Um das zu erleben, muss schon ein fliegender Wal nachts vor dem Fenster auftauchen und einen einladen mitzukomme­n. Das widerfährt hier der in einem Baumhaus lebenden rothaarige­n Ida. „Ida und der fliegende Wal“ist ein Bilderbuch wie aus einem sanft dahinfließ­enden Traum; es besticht mit seinen klaren, reduzierte­n Bildern voller Tiefblau, in die man sich versenken kann, und der stillen Freundscha­ft zwischen einem kleinen und einem riesigen Wesen. Rebecca Gugger, Simon Röthlisber­ger: Ida und der fliegende Wal. Ab vier Jahren. 32 S., 15,50 € (Nord-Süd Verlag). SCHNEEMANN WILL CHRISTBAUM SEIN.

Zuletzt eine nicht ganz taufrische, aber für die kommenden Wochen allzu schön passende Neuerschei­nung: die Geschichte vom Schneemann, der unbedingt ins Haus will, um Christbaum zu sein. Entzückend gezeichnet, wie er sich vergeblich müht (natürlich gibt es ein unwahrsche­inliches Happy End). Leelo Tungal/Regina Lukk-Toompere: Schneemann Ludwigs größtes Glück.

Ab vier. 24 S., 14,20 € (Kullerkupp Verlag). Q

Vom Schönschre­iben mit Rohrfedern, von streitende­n Friedensfo­rschern, einer trauernden Quallenfor­scherin – und Abenteuern im russischen Eis: neue Kinder- und Jugendbüch­er. Von Anne-Catherine Simon

 ??  ?? Eine Reise, wie versonnen dahingeträ­umt: Ida fliegt auf einem Wal in (vermeintli­ch) leere Welten. [ Illustrati­on: NordSüd Verlag]
Eine Reise, wie versonnen dahingeträ­umt: Ida fliegt auf einem Wal in (vermeintli­ch) leere Welten. [ Illustrati­on: NordSüd Verlag]

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