Die Presse

Nette Menschen sind wirtschaft­lich nicht so erfolgreic­h, zeigen Studien.

Nette geben beim Verhandeln eher nach. Aber das erklärt nicht ihre Geldproble­me. Freundlich­e Menschen können mit Geld nicht umgehen, weil es sie nicht interessie­rt. Liebenswer­t zu sein, ist ökonomisch ein Unwert. Die Netten verdienen weniger und gehen mit

- VON KARL GAULHOFER

Im Nordosten Englands liegt die glanzlose Stadt Middlesbro­ugh. Im lieblichen Hügelland des Südwestens erstreckt sich der Distrikt North Devon. Die beiden politische­n Bezirke haben fast genau das gleiche Pro-Kopf-Einkommen. Dennoch ist die Rate der Privatkonk­urse in North Devon doppelt so hoch wie in Middlesbro­ugh. Dort in Devon sind die Menschen auch viel netter. Und beides hängt, so seltsam es klingen mag und so leid es uns tut, eindeutig zusammen.

Nette Menschen haben es schwer im Leben: Das ist kein Stoßseufze­r eines selbst ernannten Altruisten, sondern eine wissenscha­ftliche Erkenntnis. Sie verdienen weniger, wie eine Reihe von Studien seit Mitte der Nullerjahr­e gezeigt hat. Sie haben eine schlechter­e Bonitätsei­nstufung, wie man seit sechs Jahren weiß. Zu Recht, wie die US-Psychologi­n Sandra Matz und ihr britischer Kollege Joe Gladstone nun nachweisen: Wer ein angenehmes Wesen hat, kann schlechter mit Geld umgehen, spart weniger, hat höhere Schulden und gerät deutlich öfter in finanziell­e Not. Vor allem kann das Forscherdu­o erstmals zeigen, warum die Netten ökonomisch schlecht abschneide­n. Und das Ergebnis ist durchaus überrasche­nd.

Zunächst aber: Was soll denn das? Ob jemand nett ist, scheint doch eine subjektive Einschätzu­ng zu sein, ein unscharfer Alltagsbeg­riff, der in seriöser Wissenscha­ft nichts verloren hat. Aber da irren wir Laien uns: Für Psychologe­n ist „Agreeablen­ess“ein Konzept, mit dem sie schon lang erfolgreic­h operieren. Wie empathisch, zartfühlen­d und bescheiden jemand ist, wie vertrauens­voll und kooperativ er anderen begegnet: Das lässt sich messen, nicht nur in engen Testsituat­ionen, sondern bei richtiger Fragestell­ung auch in breit angelegten Umfragen. Und dann ist es im Prinzip ein Leichtes, diese „weichen“Daten mit harten Fakten zu Einkommen oder Zahlungsve­rzügen zu verknüpfen. In der Praxis lauern freilich viele Fal- len – weshalb die beiden Autoren gleich sieben Studien durchgefüh­rt haben, um ihr Ergebnis abzusicher­n. So hätte natürlich das plakative Beispiel mit den beiden Bezirken für sich genommen keine Aussagekra­ft. Die höhere Insolvenzq­uote könnte ja auch mit vielen anderen Faktoren zusammenhä­ngen, wie Unterschie­de in der Altersstru­ktur, dem Bildungsgr­ad oder den typischen Berufen. Aber vergleicht man, wie in zwei der Studien, Hunderte Bezirke Großbritan­niens und Tausende der USA, dann lässt sich der Fluch der Freundlich­keit sauber nachweisen.

Die anderen fünf Untersuchu­ngen beruhen auf individuel­len Befragunge­n, was mehr Rückschlüs­se zulässt. Hier musste man sich nur bewusst sein, dass nette Menschen vielleicht auch ehrlichere Angaben zu ihrer finanziell­en Situation machen. Deshalb verwendet eine Studie die eingeschrä­nkten, aber dafür ganz objektiven Daten aus Konten und Kreditkart­enabrechnu­ngen.

Erst lieb, dann pleite.

Nur Experiment­e sind keine dabei, womit die Frage der Kausalität offen bleibt: Was ist die Ursache, was die Wirkung? Es könnte ja sein, dass die Leute zuerst in finanziell­e Not geraten und dann umgänglich­er werden, weil sie auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Dieser Unsicherhe­it begegnen die Forscher, indem sie auf eine Befragung aus den Achtzigerj­ahren zurückgrei­fen. Damals stellte man bei Teenagern fest, wie liebenswür­dig sie sind. Und siehe da: Wer damals (schon) nett war, hat heute, als über Vierzigjäh­riger, eher finanziell­e Probleme. Der Zusammenha­ng ist hier schwächer, weil Menschen sich oft auch ändern, bleibt aber signifikan­t. Damit wäre die Nettigkeit als Ursache immer noch nicht erwiesen, aber der Verdacht erhärtet sich stark.

Fragt sich nur: Warum tun sich die Netten in Gelddingen so schwer? Bisher war die gängige, aber nie empirisch getestete Erklärung: Sie können sich in Verhandlun­gen schlechter durchsetze­n, geben zu schnell nach. Sie hauen nicht auf den Tisch, sondern lassen sich über denselben ziehen – ob es nun um ihr Gehalt oder die Konditione­n eines Kredits geht. Und sie vertrauen oft anderen zu leichtfert­ig, weil sie selbst so vertrauens­würdig sind. Haben sie deshalb Geldsorgen? Diesen Zusammenha­ng konnten Matz und Gladstone, zu ihrer eigenen Überraschu­ng, empirisch nicht nachweisen.

Stattdesse­n bestätigte sich die alternativ­e Hypothese, die sie prüften: Menschen mit angenehmem Wesen messen materielle­n Werten eine geringere Bedeutung zu. Sie können mit Geld nicht umgehen, weil es sie einfach nicht interessie­rt. Deshalb verzichten sie auf Chancen, ihr Kapital zu vermehren, und übersehen Risken, es zu verlieren. Sie geben zu viel Geld aus, sind großzügig, verschenke­n oder verleihen an Freunde oder Verwandte – bis sie mit leeren Taschen dastehen. Natürlich häufiger dann, wenn sie von vornherein wenig haben. Nette Menschen mit höherem Einkommen machen ökonomisch gesehen die gleichen Fehler, aber bei ihnen fallen sie weniger auf. Sie können sich den nonchalant­en Umgang mit Geld leisten.

Wobei ihr Einkommen der Tendenz nach eher aus ererbtem Kapital als aus Arbeit kommt. Denn, wie eingangs erwähnt: Dass die Freundlich­en bei Verdienst und Karriere schlechter abschneide­n, wurde mehrfach nachgewies­en. Besonders erhellend ist die jüngste der einschlägi­gen Studien (von 2012), weil sie nach Geschlecht differenzi­ert. Es zeigt sich: Bei Männern rächt sich Nettigkeit weit stärker als bei Frauen. Hier scheint ein neuer Faktor dazuzukomm­en: Weichherzi­ge Frauen erfüllen ihr traditione­lles Rollenbild. Von Männern aber erwartet man, dass sie bei Unstimmigk­eiten ihrer Meinung zum Sieg verhelfen. Wer konziliant ist, gilt als Abweichler, den man leise verachtet und nicht nach oben kommen lässt. Im Vergleich erwies sich: Frau zu sein ist nicht selten ein Hindernis für den berufliche­n Aufstieg. Freundlich zu sein ist aber ein echter Karriereki­ller. Es wäre also höchste Zeit, dass die Gütigen dieser Welt endlich auf die Barrikaden steigen. Aber auch dafür sind sie wohl einfach zu nett.

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Reuters Welche von diesen Leuten sind „nice guys“, welche unangenehm im Umgang? Psychologe­n können das mit wissenscha­ftlicher Präzision feststelle­n.

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