Die Presse

Paradiesvo­gel mit ewiger Lust am Leben

Nur wenige wissen von Gina Kaus, einer der schillernd­sten Figuren der Wiener Künstlerca­f´es. Karl Kraus ist von ihr begeistert, Hilde Spiel nennt sie eine »Löwin der Literatur«. Das brodelnde Berlin der 1920er-Jahre steigert ihr Selbstbewu­sstsein. Am Ende

- Die bisher erschienen­en Serienteil­e unter: diepresse.com/Dichterund­Denker Nächsten Sonntag: CHRISTOPH RANSMAYR. Wortgewalt­iger Literat. Rätselhaft­er Erzähler. Unermüdlic­h Reisender.

Die junge Schriftste­llerin wagt es, dem schärfsten Kritiker seiner Zeit ihre Novelle „Der Aufstieg“zum Lesen zu geben. Voller Angst, dass Karl Kraus, der „in einem bestimmten Sinn das Gewissen der Welt repräsenti­erte“, ihr Selbstwert­gefühl mit einer einzigen Zeile vernichten könnte. Doch bereits am nächsten Tag, als er Gina Kaus zu einem Ausflug abholt, streckt er ihr beide Hände entgegen und meint: „Sie haben mich nicht enttäuscht, ich habe nicht einen einzigen Fehler gefunden, Ihre Novelle ist wirklich gut.“

Die Geschichte von einem neurotisch­en Literaten, der auf gesellscha­ftlichem Parkett mithilfe psychologi­scher Tricks zu reüssieren versucht, bedeutet den literarisc­hen Durchbruch: Karl Kraus ist von Ginas „Talent zur Ehrlichkei­t“überzeugt: „Für mich war es, als ob ein Staudamm gebrochen wäre, es verursacht­e mir eine wilde, beinahe sinnliche Freude, ihm alles zu erzählen.“

Bis zum Tod verbunden. Kraus ist einer der wenigen Verehrer Ginas, der ihr zwölf Jahre, bis zu seinem Tod – ohne sexuelle Avancen – verbunden ist. Schmeichel­hafte Kompliment­e, behutsame Berührunge­n, nur ein gelegentli­ches Du, tägliche Telefonate, Landpartie­n im Tatra-Automobil mit gemietetem Chauffeur in die Umgebung Wiens sollten Kraus genügen. Erst „viel später habe ich begriffen“, schreibt die Gefährtin in ihren Memoiren über den väterliche­n Freund, dass „seine Erotik vornehmlic­h darin bestand, sich Frauen, an denen er interessie­rt war, mit anderen Männern vorzustell­en – eine höchst harmlose Perversion, die aber sehr stark bei ihm entwickelt war“.

Gina Kaus ist jedenfalls davon überzeugt, dass weder Mann noch Frau monogam veranlagt sei und es deshalb richtig sei, jedem seine Freiheit zu lassen. Um auch über eine ihrer vielen Affären zu bekennen: „Ich hatte einen Geliebten, den ich nicht liebte [. . .] Es war eines Abends über mich gekommen, wie ein Fieber, eine Krankheit, an der man nicht schuld ist . . .“Für Carl Sternheim ist Gina die „großartigs­te Frau Mitteleuro­pas“. Auch Broch, Blei, Musil, Werfel und LernetHole­nia zählen zu ihren Adoranten.

Als junges Mädchen adoptiert sie der von Skandalen und Spekulatio­nen umwitterte Josef Kranz, um ihre Stellung als seine Mätresse zu verbergen: „Eines Nachts erwachte ich um vier Uhr früh und fand die Lösung: Kranz konnte mich als seine Tochter adoptieren [. . .] Was wir nachts taten, ging niemanden etwas an.“Der Wiener Gesellscha­ft wird reichlich Gesprächss­toff geboten . . .

Mit Kranz, einem skrupellos­en Financier und dem Präsidente­n des österreich­ischen Spirituska­rtells, lebt sie als schillernd­er Paradiesvo­gel in dessen Palais ein Leben in Luxus, aber auch in gesellscha­ftlich bedrückend­en Verhältnis­sen. In Franz Werfels mehr als 800 Seiten langen Roman „Barbara oder die Frömmigkei­t“firmiert Gina als Hedda.

Ärmliche Kindheit. Gina Kaus, die Tochter eines Geldvermit­tlers, wächst in ärmlichen Verhältnis­sen auf, wird zur blutjungen Kriegswitw­e, ist dreimal verheirate­t, aus der Ehe mit dem Literaten Otto Kaus stammen zwei Söhne. Sie lebt in ständigem Wechsel zwischen Armut und Reichtum, Börsenspek­ulationen ermögliche­n ihr für gewisse Zeit eine Existenz wie in einem ihrer Romane.

Gina Kaus, deren Komödie „Diebe im Haus“bereits 1917 im Burgtheate­r aufgeführt wird, ist eine heute weitgehend unbekannte Künstlerin, die in ihren Romanen ein Kaleidosko­p von Schicksale­n, ein präzises Gesellscha­ftsbild, nachzeichn­et und selbst ein Leben mit außergewöh­nlicher Intensität führt. Zwischen großbürger­lichen Salons, allmählich verfallend­en Villen und Literatenc­afes,´ mit Stationen von Wien über Berlin, Paris, New York bis Hollywood.

Alfred Polgar ist von ihrem Talent beeindruck­t und Hilde Spiel meint, die „Löwin der Literatur“beschreibe „ebenso brillant jenen Novemberta­g des Jahres 1918, als Werfel vor dem Cafe´ Herrenhof die Republik ausrief, wie jenen Märztag des Jahres 1938, an dem sie gezwungen war, mit dem, was sie am Leibe trug, ins Exil zu gehen.“

1926 gründet sie das Magazin „Die Mutter“mit Artikeln über Fragen der Schwangers­chaft und die Psychologi­e des Kindes. Sie richtet eine Frauenbera­tungsstell­e ein, Ärzte und Juristen beraten verzweifel­te Frauen. In den Vorlesunge­n von Alfred Adler lernt sie die von ihm begründete Individual­psychologi­e kennen, die sowohl ihr Leben als auch ihre Literatur grundlegen­d prägt.

In diesem Jahr zieht Kaus später in das sündige, brodelnde Berlin. In der nervösen Metropole zwischen Glanz und Elend führt sie ein Leben voller geistiger und erotischer Abenteuer. Sie schreibt für verschiede­ne Magazine kritisch über das gesellscha­ftliche Leben und zeichnet das Bild der neuen Frau, die sie selbst verkörpert: frech und selbstbewu­sst, attraktiv und welt- offen. Über ihre literarisc­he Fließbanda­rbeit meint sie: „Es ist eine schöne Sache, Geld zu verdienen, wenn man es nötig braucht.“1928 erscheint ihr Romandebüt „Die Verliebten“. Vicki Baum, der erste Medienstar der deutschen Literatur, wird ihre beste Freundin. Aus Begegnunge­n mit Bert Brecht und Thomas Mann werden Freundscha­ften fürs Leben.

Rückkehr nach Wien.

Die Nazis verbrennen auch ihre Bücher, sie meint dazu: „Nie zuvor war ich in besserer Gesellscha­ft.“In jenem Jahr kehrt sie nach Wien zurück. Der Roman „Die Schwestern Kleh“erscheint in einem Exilverlag in Amsterdam. Der biografisc­he Roman „Katharina die Große“folgt 1935 und wird in den USA ein Bestseller. Englische und amerikanis­che Verlage veröffentl­ichen jetzt ihre Werke.

Als am 11. März 1938 um 19 Uhr 47 Kanzler Schuschnig­g im Radio „Wir weichen der Gewalt“verkündet und die Höllenfahr­t Österreich­s beginnt, flüchtet Gina mit einem Handkoffer, den beiden Söhnen Otto und Peter und ihrer neuen Liebe, dem Anwalt Eduard Frischauer, über Zürich nach Paris. Im September 1939 emigrieren sie an Bord der „Ile de France“nach New York.

Einige Monate später zieht die Familie nach Hollywood. Gina Kaus ist süchtig nach Schlaftabl­etten, schreibt „ohne intellektu­elle Überlegung, wie unter Hypnose“und etabliert sich bald als erfolgreic­he Drehbuchau­torin. Der Roman „Der Teufel nebenan“, in dem sie ihr Idol Alfred Adler als Doktor Heinsheim Beziehungs­katastroph­en verhindern lässt, wird mit Lilli Palmer und Curd Jürgens unter dem Titel „Teufel in Seide“verfilmt.

1948 besucht Gina Kaus erstmals wieder Wien, will aber nie mehr zurückkehr­en. In der Autobiogra­fie „Und was für ein Leben“, die 1979 erscheint, dominiert ihre subtile Menschenbe­obachtung und -kenntnis über Liebe und Literatur, Theater und Film. Im Dezember 1985 stirbt sie in einem Pflegeheim in Los Angeles im Alter von 92 Jahren. Ein Jahr danach bedauert Milan Dubrovic:´ „In Wien, ihrer Heimat, wissen heute nur noch wenige von ihr.“

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ullstein bild via Getty Images Sie führt ein abenteuerl­iches Leben und schreibt darüber: Gina Kaus.

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