Paradiesvogel mit ewiger Lust am Leben
Nur wenige wissen von Gina Kaus, einer der schillerndsten Figuren der Wiener Künstlercaf´es. Karl Kraus ist von ihr begeistert, Hilde Spiel nennt sie eine »Löwin der Literatur«. Das brodelnde Berlin der 1920er-Jahre steigert ihr Selbstbewusstsein. Am Ende
Die junge Schriftstellerin wagt es, dem schärfsten Kritiker seiner Zeit ihre Novelle „Der Aufstieg“zum Lesen zu geben. Voller Angst, dass Karl Kraus, der „in einem bestimmten Sinn das Gewissen der Welt repräsentierte“, ihr Selbstwertgefühl mit einer einzigen Zeile vernichten könnte. Doch bereits am nächsten Tag, als er Gina Kaus zu einem Ausflug abholt, streckt er ihr beide Hände entgegen und meint: „Sie haben mich nicht enttäuscht, ich habe nicht einen einzigen Fehler gefunden, Ihre Novelle ist wirklich gut.“
Die Geschichte von einem neurotischen Literaten, der auf gesellschaftlichem Parkett mithilfe psychologischer Tricks zu reüssieren versucht, bedeutet den literarischen Durchbruch: Karl Kraus ist von Ginas „Talent zur Ehrlichkeit“überzeugt: „Für mich war es, als ob ein Staudamm gebrochen wäre, es verursachte mir eine wilde, beinahe sinnliche Freude, ihm alles zu erzählen.“
Bis zum Tod verbunden. Kraus ist einer der wenigen Verehrer Ginas, der ihr zwölf Jahre, bis zu seinem Tod – ohne sexuelle Avancen – verbunden ist. Schmeichelhafte Komplimente, behutsame Berührungen, nur ein gelegentliches Du, tägliche Telefonate, Landpartien im Tatra-Automobil mit gemietetem Chauffeur in die Umgebung Wiens sollten Kraus genügen. Erst „viel später habe ich begriffen“, schreibt die Gefährtin in ihren Memoiren über den väterlichen Freund, dass „seine Erotik vornehmlich darin bestand, sich Frauen, an denen er interessiert war, mit anderen Männern vorzustellen – eine höchst harmlose Perversion, die aber sehr stark bei ihm entwickelt war“.
Gina Kaus ist jedenfalls davon überzeugt, dass weder Mann noch Frau monogam veranlagt sei und es deshalb richtig sei, jedem seine Freiheit zu lassen. Um auch über eine ihrer vielen Affären zu bekennen: „Ich hatte einen Geliebten, den ich nicht liebte [. . .] Es war eines Abends über mich gekommen, wie ein Fieber, eine Krankheit, an der man nicht schuld ist . . .“Für Carl Sternheim ist Gina die „großartigste Frau Mitteleuropas“. Auch Broch, Blei, Musil, Werfel und LernetHolenia zählen zu ihren Adoranten.
Als junges Mädchen adoptiert sie der von Skandalen und Spekulationen umwitterte Josef Kranz, um ihre Stellung als seine Mätresse zu verbergen: „Eines Nachts erwachte ich um vier Uhr früh und fand die Lösung: Kranz konnte mich als seine Tochter adoptieren [. . .] Was wir nachts taten, ging niemanden etwas an.“Der Wiener Gesellschaft wird reichlich Gesprächsstoff geboten . . .
Mit Kranz, einem skrupellosen Financier und dem Präsidenten des österreichischen Spirituskartells, lebt sie als schillernder Paradiesvogel in dessen Palais ein Leben in Luxus, aber auch in gesellschaftlich bedrückenden Verhältnissen. In Franz Werfels mehr als 800 Seiten langen Roman „Barbara oder die Frömmigkeit“firmiert Gina als Hedda.
Ärmliche Kindheit. Gina Kaus, die Tochter eines Geldvermittlers, wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, wird zur blutjungen Kriegswitwe, ist dreimal verheiratet, aus der Ehe mit dem Literaten Otto Kaus stammen zwei Söhne. Sie lebt in ständigem Wechsel zwischen Armut und Reichtum, Börsenspekulationen ermöglichen ihr für gewisse Zeit eine Existenz wie in einem ihrer Romane.
Gina Kaus, deren Komödie „Diebe im Haus“bereits 1917 im Burgtheater aufgeführt wird, ist eine heute weitgehend unbekannte Künstlerin, die in ihren Romanen ein Kaleidoskop von Schicksalen, ein präzises Gesellschaftsbild, nachzeichnet und selbst ein Leben mit außergewöhnlicher Intensität führt. Zwischen großbürgerlichen Salons, allmählich verfallenden Villen und Literatencafes,´ mit Stationen von Wien über Berlin, Paris, New York bis Hollywood.
Alfred Polgar ist von ihrem Talent beeindruckt und Hilde Spiel meint, die „Löwin der Literatur“beschreibe „ebenso brillant jenen Novembertag des Jahres 1918, als Werfel vor dem Cafe´ Herrenhof die Republik ausrief, wie jenen Märztag des Jahres 1938, an dem sie gezwungen war, mit dem, was sie am Leibe trug, ins Exil zu gehen.“
1926 gründet sie das Magazin „Die Mutter“mit Artikeln über Fragen der Schwangerschaft und die Psychologie des Kindes. Sie richtet eine Frauenberatungsstelle ein, Ärzte und Juristen beraten verzweifelte Frauen. In den Vorlesungen von Alfred Adler lernt sie die von ihm begründete Individualpsychologie kennen, die sowohl ihr Leben als auch ihre Literatur grundlegend prägt.
In diesem Jahr zieht Kaus später in das sündige, brodelnde Berlin. In der nervösen Metropole zwischen Glanz und Elend führt sie ein Leben voller geistiger und erotischer Abenteuer. Sie schreibt für verschiedene Magazine kritisch über das gesellschaftliche Leben und zeichnet das Bild der neuen Frau, die sie selbst verkörpert: frech und selbstbewusst, attraktiv und welt- offen. Über ihre literarische Fließbandarbeit meint sie: „Es ist eine schöne Sache, Geld zu verdienen, wenn man es nötig braucht.“1928 erscheint ihr Romandebüt „Die Verliebten“. Vicki Baum, der erste Medienstar der deutschen Literatur, wird ihre beste Freundin. Aus Begegnungen mit Bert Brecht und Thomas Mann werden Freundschaften fürs Leben.
Rückkehr nach Wien.
Die Nazis verbrennen auch ihre Bücher, sie meint dazu: „Nie zuvor war ich in besserer Gesellschaft.“In jenem Jahr kehrt sie nach Wien zurück. Der Roman „Die Schwestern Kleh“erscheint in einem Exilverlag in Amsterdam. Der biografische Roman „Katharina die Große“folgt 1935 und wird in den USA ein Bestseller. Englische und amerikanische Verlage veröffentlichen jetzt ihre Werke.
Als am 11. März 1938 um 19 Uhr 47 Kanzler Schuschnigg im Radio „Wir weichen der Gewalt“verkündet und die Höllenfahrt Österreichs beginnt, flüchtet Gina mit einem Handkoffer, den beiden Söhnen Otto und Peter und ihrer neuen Liebe, dem Anwalt Eduard Frischauer, über Zürich nach Paris. Im September 1939 emigrieren sie an Bord der „Ile de France“nach New York.
Einige Monate später zieht die Familie nach Hollywood. Gina Kaus ist süchtig nach Schlaftabletten, schreibt „ohne intellektuelle Überlegung, wie unter Hypnose“und etabliert sich bald als erfolgreiche Drehbuchautorin. Der Roman „Der Teufel nebenan“, in dem sie ihr Idol Alfred Adler als Doktor Heinsheim Beziehungskatastrophen verhindern lässt, wird mit Lilli Palmer und Curd Jürgens unter dem Titel „Teufel in Seide“verfilmt.
1948 besucht Gina Kaus erstmals wieder Wien, will aber nie mehr zurückkehren. In der Autobiografie „Und was für ein Leben“, die 1979 erscheint, dominiert ihre subtile Menschenbeobachtung und -kenntnis über Liebe und Literatur, Theater und Film. Im Dezember 1985 stirbt sie in einem Pflegeheim in Los Angeles im Alter von 92 Jahren. Ein Jahr danach bedauert Milan Dubrovic:´ „In Wien, ihrer Heimat, wissen heute nur noch wenige von ihr.“