Der Judenhass nimmt dramatisch zu
Meinungsumfrage. Neun von zehn jüdischen Europäern sagen, der Antisemitismus sei in den vergangenen fünf Jahren gestiegen. EU-Justizkommissarin Jourov´a ist über die Daten „schockiert“.
Wenn Juden heute in Europa wegen ihres Glaubens angegriffen werden, melden sie das nur in Ausnahmefällen der Polizei. Jeder Dritte hat schon erwägt, vor dem Judenhass nach Israel zu fliehen. Mehr als die Hälfte der europäischen Juden erkennt zwar an, dass ihre Regierungen etwas dagegen tun – aber sieben von zehn meinen, dass das nicht genug ist, um den Antisemitismus zu bekämpfen. „Antisemitische Belästigungen sind so häufig, dass sie normalisiert werden“, warnt die EU-Grundrechteagentur in ihren Schlussfolgerungen aus der Befragung von mehr als 16.000 jüdischen Bürgern aus zwölf Mitgliedsstaaten, darunter auch Österreich. Diese Länder beherbergen 97 Prozent der Juden Europas.
„Das sind heute keine guten Nachrichten. Ich hatte eine Ver- schlimmerung erwartet. Aber manche dieser Daten sind tief schockierend“, sagte die für Justiz, Gleichberechtigung und Verbraucherschutz zuständige Kommissarin Veraˇ Jourova´ am Montag im Gespräch mit der „Presse“.
Jourova´ nahm die Mitgliedsstaaten vor allem in der Frage der Bereitstellung von Sicherheitsleistungen für jüdische Schulen, Kulturzentren und Gotteshäuser in die Pflicht: „Ich bin der Meinung, dass der Staat das bezahlen muss, nicht die jüdischen Gemeinden selber.“Auch sei vielerorts eine „bessere Umsetzung“strafrechtlicher Vorschriften nötig.
Doch stelle das Strafrecht gewissermaßen nur den Endpunkt der Anstrengungen gegen den Judenhass dar, gab die Kommissarin zu bedenken. Der Schlüssel liege in der Bildung: „Kinder aller Kulturen müssen die jüdische Geschichte in Europa lernen. Wir verlieren jetzt nach und nach die letzten Zeitzeugen. Wir werden nie genug über die toten Juden weinen können. Aber weinen ist nicht genug. Wir müssen uns um die lebenden Juden kümmern.“
Die frühere tschechische Ministerin für Regionalpolitik hat eigene Erfahrung im Umgang mit dem Gedenken an die Shoah. Ende der 1990er-Jahre war sie als Mitglied der Stadtverwaltung des mährischen Tˇreb´ıcˇ (Trebitsch) für die Sanierung des einst jüdischen Viertels zuständig. „Zehn von 400 Juden, die vor dem Krieg dort gelebt hatten, waren aus den Lagern zurückgekommen“, sagte Jourova.´ „Als wir mit den Arbeiten begannen, war von ihnen nur mehr eine alte Dame am Leben.“Es sei „sehr eigenartig gewesen, das kulturelle Erbe von Menschen zu restaurieren, die nicht mehr da sind“.
Die Umfrageergebnisse für Österreich liegen leicht unter dem Durchschnitt der zwölf Staaten, Grund zur Entspannung in der Frage, wie sicher man sich als Jude 80 Jahre nach dem „Anschluss“fühlen kann, geben sie allerdings nicht. 73 Prozent der befragten österreichischen Juden gaben an, dass Antisemitismus ein sehr oder ziemlich großes Problem sei (85 Prozent im Schnitt aller untersuchten Länder). 85 Prozent begegneten in Österreich Judenhass im Internet, 63 Prozent sagten, dass es im politischen Leben Antisemitismus gebe.
Hinsichtlich der Identität antisemitischer Täter erklärten 35 Prozent der befragten österreichischen Juden, denen so etwas schon einmal passiert ist, dass es sich um jemanden mit „muslimischen extremistischen Ansichten“ gehandelt habe, 25 Prozent, dass es jemand mit „rechtsradikalen Ansichten“, und 14 Prozent, dass es jemand mit „linksradikalen Ansichten“gewesen sei. Besonders schlimm ist die Lage in Frankreich: dort sagen 91 Prozent, dass es auf der Straße und generell im öffentlichen Raum Judenfeindlichkeit gebe (in Österreich: 46 Prozent).
In Summe sagten 89 Prozent aller befragten jüdischen Europäer, dass im Verlauf der vergangenen fünf Jahre der Judenhass in ihrem Land zugenommen habe. „Wegen des gegenwärtigen Antisemitismus wissen nur meine engsten Freunde über meine Religion Bescheid“, zitiert der Umfragebericht eine österreichische Jüdin. „Antisemitismus und Rassismus sind wie das Wiener Schnitzel. Sie sind Teil des österreichischen Kulturerbes“, gab ein österreichischer Jude zu Protokoll. „Es gibt da nichts zu bekämpfen, nur die Folgen zu unterdrücken muss ausreichen.“ Nach 2012 führte die EU-Grundrechteagentur im heurigen Mai und Juni eine erneute Befragung von mehr als 16.000 jüdischen Europäern durch. Die Ergebnisse sind alarmierend: Neun von zehn Befragten sagten, der Antisemitismus habe sich verstärkt, ein Drittel erwägt deshalb die Emigration.