Warum wir nicht zwischen zwei Speisen verhungern
Neurowissenschaft. In der unendlichen Debatte über den freien Willen spielt ein Tier mit: Buridans Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert. Australische Forscher untersuchten, wie wir Menschen (und der Esel?) uns doch zwischen zwei gleichwertigen Opt
„Zwischen zwei Speisen, gleich entfernt und lockend, ging hungrig wohl ein freier Mann zugrund, nicht von der einen noch der andern brockend“: So begann Dante Alighieri (1265–1321) den vierten Gesang des dritten Teils („Paradiso“) seiner „Göttlichen Komödie“. Ein ganz ähnliches Bild fand der persische Philosoph al-Ghazal¯¯ı (1058–1111): „Wenn ein durstiger Mann auf zwei unterschiedliche Gläser Wasser zugreifen kann, die für seine Zwecke in jeder Hinsicht gleich sind, müsste er verdursten, solange eines nicht schöner, leichter oder näher an seiner rechten Hand ist.“
Auch der Scholastiker Jean Buridan (1300–1358) befand, dass ein Mensch, der zwischen zwei Optionen steht, die beide gleich interessant – oder, für Pessimisten: genau gleich uninteressant – sind, sich einfach nicht entscheiden könne. Seltsamerweise wird diese tragikomische Situation seither einem Esel zugeschrieben, der sich zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen nicht entscheiden kann, und „Buridans Esel“genannt, obwohl keine Stelle überliefert ist, bei der Buridan über einen Esel spricht. Wahrscheinlich wollte man seine Argumentation verspotten.
Sehr ernst nahm Arthur Schopenhauer dieses Problem in seiner Streitschrift gegen den Glauben, dass dem Menschen Willensfreiheit zukomme. Nur Buridans Esel – respektive einem Menschen in einer vergleichbaren Situation – könne man eine solche Freiheit attestieren. Es ist schwer, Schopenhauer da konzise zu widersprechen: Wenn Motive vorliegen, die den Ausschlag für eine Entscheidung geben, kann man nicht sagen, dass diese Entscheidung völlig frei getroffen werde. Selbst wenn der Esel sich für den rechts von ihm gelegenen Heuhaufen entscheidet, weil er aufgrund seiner Erfahrungen oder seiner Erbanlagen lieber nach rechts geht oder schaut als nach links, ist er nicht frei, sondern von seinen Erfahrungen oder seinen Anlagen bestimmt.
„Buridans Esel: Neurowissenschaft löst mittelalterliches Problem der Entscheidungsfindung“: So bewirbt die Society for Neuroscience nun eine Arbeit, in der Forscher um Katharina Voigt (University of Melbourne) einschlägige Experimente beschreiben (Journal of Neuroscience, 10. 12.). Sie haben zwar keinen Esel zwischen zwei Heuhaufen gestellt, aber Menschen vor die Wahl zwischen jeweils zwei Snacks (in der Auswahl war übrigens auch eine Tafel RitterSport-Schokolade), die sie in einer Vorrunde als gleich begehrenswert genannt hatten. Die Neurowissenschaftler nennen so etwas eine „hard decision“.
Hin und Her der Augen und im Hirn
Während der Entscheidung (bzw. in der Zeit, bevor sie gefällt wurde) maßen die Forscher die Aktivität in bestimmten Hirnzentren der Testpersonen (vor allem im dorsolateralen präfrontalen Kortex, wo u. a. die neuronalen Prozesse stattfinden, die einer Bewertung entsprechen) und die Bewegun- gen der Augen, von einer lockenden Speise zur anderen und zurück. Aus den Messungen – und dem Vergleich mit Situationen, in denen die Entscheidung leicht war – schließen sie, dass tatsächlich ein Hin und Her stattfindet, dass, wie sie schreiben, „sich die Präferenzen dynamisch entwickeln, während die Entscheidungen entstehen, möglicherweise als ein Mechanismus, um Pattsituationen in unterdeterminierten Szenarios zu verhindern“.
Bisher ist unter Neurowissenschaftlern die Annahme verbreitet, dass zuerst die Entscheidung (unbewusst) stattfinde und erst danach die Präferenzen fixiert und begründet werden, um die Entscheidung im Nachhinein zu rechtfertigen. Das diene der Auflösung kognitiver Dissonanz, die seelisches Unbehagen erzeuge. Wer je im Gasthaus gleich nach der Bestellung vom Gefühl befallen wurde, dass (fast) alle anderen Speisen besser wären als die gewählte, wird wohl zustimmen: Diese Auflösung funktioniert zumindest nicht immer und nicht bei allen . . .