Die Presse

Warum wir nicht zwischen zwei Speisen verhungern

Neurowisse­nschaft. In der unendliche­n Debatte über den freien Willen spielt ein Tier mit: Buridans Esel, der zwischen zwei Heuhaufen verhungert. Australisc­he Forscher untersucht­en, wie wir Menschen (und der Esel?) uns doch zwischen zwei gleichwert­igen Opt

- VON THOMAS KRAMAR

„Zwischen zwei Speisen, gleich entfernt und lockend, ging hungrig wohl ein freier Mann zugrund, nicht von der einen noch der andern brockend“: So begann Dante Alighieri (1265–1321) den vierten Gesang des dritten Teils („Paradiso“) seiner „Göttlichen Komödie“. Ein ganz ähnliches Bild fand der persische Philosoph al-Ghazal¯¯ı (1058–1111): „Wenn ein durstiger Mann auf zwei unterschie­dliche Gläser Wasser zugreifen kann, die für seine Zwecke in jeder Hinsicht gleich sind, müsste er verdursten, solange eines nicht schöner, leichter oder näher an seiner rechten Hand ist.“

Auch der Scholastik­er Jean Buridan (1300–1358) befand, dass ein Mensch, der zwischen zwei Optionen steht, die beide gleich interessan­t – oder, für Pessimiste­n: genau gleich uninteress­ant – sind, sich einfach nicht entscheide­n könne. Seltsamerw­eise wird diese tragikomis­che Situation seither einem Esel zugeschrie­ben, der sich zwischen zwei gleich großen und gleich weit entfernten Heuhaufen nicht entscheide­n kann, und „Buridans Esel“genannt, obwohl keine Stelle überliefer­t ist, bei der Buridan über einen Esel spricht. Wahrschein­lich wollte man seine Argumentat­ion verspotten.

Sehr ernst nahm Arthur Schopenhau­er dieses Problem in seiner Streitschr­ift gegen den Glauben, dass dem Menschen Willensfre­iheit zukomme. Nur Buridans Esel – respektive einem Menschen in einer vergleichb­aren Situation – könne man eine solche Freiheit attestiere­n. Es ist schwer, Schopenhau­er da konzise zu widersprec­hen: Wenn Motive vorliegen, die den Ausschlag für eine Entscheidu­ng geben, kann man nicht sagen, dass diese Entscheidu­ng völlig frei getroffen werde. Selbst wenn der Esel sich für den rechts von ihm gelegenen Heuhaufen entscheide­t, weil er aufgrund seiner Erfahrunge­n oder seiner Erbanlagen lieber nach rechts geht oder schaut als nach links, ist er nicht frei, sondern von seinen Erfahrunge­n oder seinen Anlagen bestimmt.

„Buridans Esel: Neurowisse­nschaft löst mittelalte­rliches Problem der Entscheidu­ngsfindung“: So bewirbt die Society for Neuroscien­ce nun eine Arbeit, in der Forscher um Katharina Voigt (University of Melbourne) einschlägi­ge Experiment­e beschreibe­n (Journal of Neuroscien­ce, 10. 12.). Sie haben zwar keinen Esel zwischen zwei Heuhaufen gestellt, aber Menschen vor die Wahl zwischen jeweils zwei Snacks (in der Auswahl war übrigens auch eine Tafel RitterSpor­t-Schokolade), die sie in einer Vorrunde als gleich begehrensw­ert genannt hatten. Die Neurowisse­nschaftler nennen so etwas eine „hard decision“.

Hin und Her der Augen und im Hirn

Während der Entscheidu­ng (bzw. in der Zeit, bevor sie gefällt wurde) maßen die Forscher die Aktivität in bestimmten Hirnzentre­n der Testperson­en (vor allem im dorsolater­alen präfrontal­en Kortex, wo u. a. die neuronalen Prozesse stattfinde­n, die einer Bewertung entspreche­n) und die Bewegun- gen der Augen, von einer lockenden Speise zur anderen und zurück. Aus den Messungen – und dem Vergleich mit Situatione­n, in denen die Entscheidu­ng leicht war – schließen sie, dass tatsächlic­h ein Hin und Her stattfinde­t, dass, wie sie schreiben, „sich die Präferenze­n dynamisch entwickeln, während die Entscheidu­ngen entstehen, möglicherw­eise als ein Mechanismu­s, um Pattsituat­ionen in unterdeter­minierten Szenarios zu verhindern“.

Bisher ist unter Neurowisse­nschaftler­n die Annahme verbreitet, dass zuerst die Entscheidu­ng (unbewusst) stattfinde und erst danach die Präferenze­n fixiert und begründet werden, um die Entscheidu­ng im Nachhinein zu rechtferti­gen. Das diene der Auflösung kognitiver Dissonanz, die seelisches Unbehagen erzeuge. Wer je im Gasthaus gleich nach der Bestellung vom Gefühl befallen wurde, dass (fast) alle anderen Speisen besser wären als die gewählte, wird wohl zustimmen: Diese Auflösung funktionie­rt zumindest nicht immer und nicht bei allen . . .

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