Die Presse

Ausgerechn­et die politische Mitte kann ein lebensgefä­hrlicher Ort sein

Warum moderate linke und rechte Parteien in Zeiten schwerer politische­r Umbrüche immer verzweifel­ter um ihr Überleben kämpfen müssen.

-

Noch ist nicht übertriebe­n wahrschein­lich, dass in ein paar Jahren die französisc­he Staatspräs­identin Marine Le Pen den deutschen Bundeskanz­ler Alexander Gauland (AfD) zu einem Antrittsbe­such in Berlin treffen wird. Aber: Nach den Ereignisse­n in Deutschlan­d und Frankreich der vergangene­n Tage ist es durchaus wahrschein­lich, dass der rechte Rassemblem­ent National Le Pens, bis Juni 2018 unter dem Namen Front National bekannt, und die rechte deutsche Alternativ­e für Deutschlan­d erheblich an Terrain gewinnen werden, Teilhabe an der Macht eventuell sogar inbegriffe­n.

Denn indem die deutsche CDU die MerkelRein­karnation Annegret Kramp-Karrenbaue­r zur Merkel-Nachfolger­in kürte, stärkte sie die AfD massiv, die nun Chancen hat, zur Volksparte­i zu werden, indem sie jene CDU-Wähler anspricht, die eine Fortsetzun­g des Merkelismu­s in neuer Verpackung für nicht wünschensw­ert halten.

Auf der anderen Seite des Rheins kann Frau Le Pen der Zukunft wieder optimistis­cher entgegense­hen, weil dort gerade die Macron-Illusion platzt und Frankreich ökonomisch immer tiefer in die Merde rutscht, was am Ende wohl nicht nur, aber vor allem der radikalen Rechten nutzen wird. Man muss also keine überhitzte politische Fantasie haben, um zu vermuten, dass auch in Deutschlan­d und Frankreich nach vielen anderen EU-Ländern die Neue Rechte in Zukunft erheblich an Einfluss gewinnen wird.

Womit sich die Frage stellt: Können traditione­lle Parteien der moderaten Mitte, seien sie sozialdemo­kratisch oder christdemo­kratisch orientiert, überhaupt noch Wahlen und danach Parlamente dominieren? Oder haben sie sich ganz einfach überlebt wie die Anhänger eines Kaisertums von Gottes Gnaden?

Es ist wohl kein Zufall, dass die Existenzkr­ise der moderaten Mitte mit ein paar einschneid­enden politische­n Disruption­en in Europa zusammenfä­llt: vor allem natürlich der Völkerwand­erung der Jahre 2015 ff. Dass sich Parteien der moderaten Mitte so verdammt schwertun, mit diesem Umbruch angemessen umzugehen, liegt wohl in ihrer Natur. Denn diese Zerrüttung erfordert aus Sicht vieler Wähler zum Teil radikale Antworten und Methoden, die gleichsam definition­sgemäß nicht mit der moderaten Mitte vereinbar sind.

Das heißt: Wenn wieder ein junger Mann aus Afghanista­n ein junges Mädchen absticht, dann wird die moderate Mitte – zum Beispiel in Gestalt der hiesigen SPÖ mit ihrer Sprechblas­e „Integratio­n vor Zuwanderun­g“– beim Wähler keine Begeisteru­ngsstürme generieren. Dieser will nämlich von „Einzelfall“zu „Einzelfall“keine moderate, sondern eine radikale Lösung des Problems.

Ähnliches gilt auch für andere Zerrüttung­en, denen wir ausgesetzt sind: der ungelösten Schuldenkr­ise, dem Kollaps der globalen Nachkriegs­ordnung, der digitalen Revolution oder den Herausford­erungen durch einen aggressive­n politische­n Islam wie jüngst in Straßburg. Der moderaten Mitte fallen dazu nicht immer, aber zu oft nur Lösungen ein, die viel zu bescheiden ausfallen – wie es halt in ihrer Natur liegt.

Man kann ihr das nicht einmal wirklich zum Vorwurf machen. Wer alles in allem erfolgreic­h über viele Jahrzehnte eine Politik der moderaten Mitte betrieben hat, wie das bei Europas Christ- und Sozialdemo­kraten ja der Fall war, der tut sich extrem schwer mit dem Gedanken, dass extreme Situatione­n gelegentli­ch extreme Maßnahmen erfordern. Und dass deshalb die Position der moderaten Mitte gelegentli­ch auch einmal die falsche Position sein kann.

Es ist noch zu früh, um einschätze­n zu können, ob sich die traditione­llen Parteien der Mitte soweit verändern können und werden, dass sie bestehen können – dann freilich zumindest teilweise mit Inhalten, die weder moderat sind noch der Mitte angehören –, oder ob sie der Marginalis­ierung anheimfall­en werden. Nur dass alles bleibt, wie es ist, kann mit ziemlicher Sicherheit ausgeschlo­ssen werden.

 ??  ?? VON CHRISTIAN ORTNER
VON CHRISTIAN ORTNER

Newspapers in German

Newspapers from Austria