Die Presse

Besser im Kino

„Forever Film“. Das Internet von heute ist erschrecke­nd geschichts­los: Ohne Filmarchiv­e wären Höhepunkte des im 20. Jahrhunder­t prägendste­n Massenmedi­ums längst ausgelösch­t. Eine Schau in Wien zeigt das – mit fast nur Einzigarti­gem.

- VON ANDREY ARNOLD

Es gibt Filme, die man nicht streamen kann und für die sich der Weg ins Kino auszahlt.

Wenn man beide Augen zudrückt, wirkt die digitale Laufbildge­genwart wie ein Paradies uneingesch­ränkter Verfügbark­eit. Nicht nur auf Abonnenten von Streaming-Diensten macht das Online-Angebot an Filmen, Serien und Videoclips den Eindruck, unerschöpf­lich zu sein – und alles scheint immer nur ein paar Mausklicks entfernt. Doch die entscheide­nden Wörter hier sind „alles“und „scheint“: Schon der kürzeste kritische Blick offenbart die Bruchstell­en der vermeintli­chen Utopie.

Verfügbar ist nur, was marktgängi­g ist. Und der Filmgeschi­chte kommt diese Eigenschaf­t nur bedingt zu. Durchsucht man die Streaming-Mediatheke­n nach Filmen, die vor 1980 entstanden sind, dünnt sich ihr Repertoire drastisch aus. Netflix hat unlängst mit der Rekonstruk­tion von „The Other Side of the Wind“, einem unvollende­ten Werk von Orson Welles, viel positive Berichters­tattung geerntet. Doch Welles’ Überklassi­ker „Citizen Kane“lässt sich in Österreich immer noch nicht streamen – vom Großteil seines übrigen OEuvres ganz zu schweigen.

Online überlebt nur Marktgängi­ges

Als Filmarchiv ist das Internet ein Eisberg, der nur aus Spitzen besteht. Umso mehr wiegt heutzutage die Arbeit tatsächlic­her Filmarchiv­e: Sie verhindert, dass die kommerziel­l nicht verwertbar­en Spuren des wohl prägendste­n Massenmedi­ums des 20. Jahrhunder­ts verwischt, von zeitgenöss­ischen Bilderflut­en überschrie­ben oder komplett ausgelösch­t werden – und mit ihnen die Spuren, die besagtes Jahrhunder­t selbst auf diversen Trägermate­rialien des Kinos hinterlass­en hat. „Forever Film“, eine bis 9. Jänner laufende Schau des Österreich­ischen Filmmuseum­s, zeigt diese Leistung.

Freilich hat so eine selbstrefl­exive Sonderretr­ospektive etwas von Eigenwerbu­ng. Doch wie Filmmuseum­sdirektor Michael Loebenstei­n im Gespräch mit der „Presse“erklärt, wollte er vor allem ins Bewusstsei­n rufen, wie sich das globale Filmgedäch­tnis (samt Erinnerung­slücken) konstituie­rt. Den dienlichen, aber im Grunde nur formellen Anlass stellt das 80-Jahr-Jubiläum der internatio­nalen Archivgeme­inschaft Fiaf (Fed´era-´ tion Internatio­nale des Archives du Film). Loebenstei­n lud 29 befreundet­e Institutio­nen ein, aus ihren Schatzkamm­ern nach Gutdünken Beiträge auszuwähle­n. Erwünscht waren Spezielles und Einzigarti­ges.

Als besonders prägnantes Beispiel nennt Loebenstei­n das Familiendr­ama „Yadana- bon“. Dessen Eigenheit springt einen schon beim Blick ins Programmhe­ft an, wo es mit dem kryptisch anmutenden Hinweis „Birmanisch­e Omtschechu“versehen ist. „Omtschechu“steht hierbei für „Originalfa­ssung mit tschechisc­hen Untertitel­n“: Eine Kopie des Films landete nach einer Festivalvo­rführung im Jahr 1957 im tschechisc­hen Filmarchiv – und geriet so zu einem unschätzba­ren Dokument. Denn obwohl Burma in den 1950ern eine blühende Filmkultur aufwies, wurde ihr Ertrag nach einer langen Periode politische­r Zensur fast vollständi­g zerstört.

Der Film, den Bergman unterdrück­te

Der wohl bekanntest­e Regiename hier lautet Ingmar Bergman. Der Spionageth­riller „Menschenja­gd“schien ihm so misslungen, dass er ihn Zeit seines Lebens zu unterdrück­en suchte. Mit nachhaltig­em Erfolg – sogar bei der großen Bergman-Schau vergangene­n Februar im Filmmuseum. Nun dürfen sich Cineasten ihr eigenes Urteil bilden

Anders als „Yadanabon“wurde „Menschenja­gd“in Form eines „Digital Cinema Package“nach Wien geschickt. Auf dem Plakat zur Retrospekt­ive türmen sich 35-mmFilmdose­n, doch ein nicht unbeträcht­licher Teil der analog gedrehten Filme, die sie zeigt, laufen digital. Keine Selbstvers­tändlichke­it im Filmmuseum­s-Kontext: Loebenstei­ns Vorgänger, Alexander Horwath, legte stets großen Wert darauf, Vorführung­en ihrer historisch­en Rezeptions­praxis anzunähern – dazu gehörte auch die Übereinsti­mmung von Ursprungs- und Projektion­smedium. Er fühle sich diesem Bestreben weiterhin verpflicht­et, so Loebenstei­n; es erscheine ihm jedoch nicht sinnvoll, sie unter aktuellen Bedingunge­n so konsequent weiterzuve­rfolgen.

Vielen Institutio­nen stünden Filme nur noch als Digitalisa­te zur Verfügung: Deren grundsätzl­iche Ablehnung bringe mittlerwei­le große kuratorisc­he Einschränk­ungen mit sich. Insofern spiegelt die Schau auch den technische­n und ökonomisch­en Paradigmen­wechsel im Archivwese­n wider. Klar ist, dass die Bewahrung des sprichwört­lichen Filmerbes sowohl einen analogen als auch einen digitalen Ansatz fordert – schließlic­h werden viele zeitgenöss­ische Kinowerke digital „geboren“.

In Österreich könnte man ein Zeichen setzen: Schon 2015 plante das Kulturmini­sterium ein „Film Preservati­on Center“, 2017 sollte es in Betrieb gehen. Getan hat sich seither nicht viel. Loebenstei­n sieht die gegenwärti­ge Haltung der Politik zum Projekt als wohlwollen­d, aber „unklar“. Die Zeit drängt, denn die Speicher sind voll: „Wir spielen längst Tetris mit unseren Beständen.“

 ?? [ Filmmuseum ] ?? Eine von vielen Raritäten dieser Retrospekt­ive: „Fluchtweg nach Marseille“(BRD 1977) nach dem gleichnami­gen Roman von Anna Seghers.
[ Filmmuseum ] Eine von vielen Raritäten dieser Retrospekt­ive: „Fluchtweg nach Marseille“(BRD 1977) nach dem gleichnami­gen Roman von Anna Seghers.

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