„Der Arabische Frühling ist vorbei“
Tunesien. Acht Jahre, nachdem im Ort Sidi Bouzid der Arabische Frühling begonnen hat, präsentiert die Wahrheitskommission ihre Bilanz zu den Diktaturverbrechen. Doch die Regierung schaut weg.
Bereits in der Früh hatten sich betuchte Herren und Damen in Pelzmänteln hinter der Polizeibarriere Stühle mit rotem Samt aufstellen lassen. „Der Arabische Frühling ist vorbei“, reckten sie auf ihren Plakaten und wippten mit den Schuhen zum Song „Les Salauds“, den sie in Überlautstärke quer über die Straße bis in den Konferenzsaal dröhnen ließen. „Ihr Schurken habt mein Paradies in Brand gesteckt“, tönte Reggae-Star Alpha Blondy aus den Lautsprechern. „Die Bestien haben das Land in Feuer und Blut getaucht“.
Für Tunesiens Wahrheitskommission und ihre Präsidentin Sihem Bensedrine, die im halbrunden Glasgebäude der Anwaltskammer die Schlussbilanz ihrer viereinhalbjährigen Arbeit zogen, gehören solche Hasskampagnen zum Alltag. 2013 vom ersten frei gewählten Parlament Tunesiens geschaffen, stand das Gremium von Anfang an unter Beschuss: Es sollte die Verbrechen unter den Diktaturen von Habib Bourguiba und Zine el-Abidine Ben Ali aufklären. 50.000 Schicksale von Opfern, darunter 13.000 Frauen, recherchierten die 600 Mitarbeiter.
Ohne die verzweifelte Tat von Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 hätte es die „Instanz für Wahrheit und Würde“(IVD), wie sie offiziell heißt, nie gegeben. Damals vor acht Jahren übergoss sich der 26-jährige Gemüsehändler in dem staubigen Städtchen Sidi Bouzid mit Benzin und zündete sich an. Sein Tod löste eine politische Lawine aus, erschütterte erst Tunesien und dann den gesamten Nahen Osten. Heute ist der kleine Mittelmeeranrainer der einzige unter den damaligen Frühlingsstaaten, der nicht zurück in eine neue Diktatur gefallen oder in einen Bürgerkrieg abgerutscht ist.
Seelisch stranguliert
Doch auch in Tunesien sind wieder viele frühere Regimekader aktiv. Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen, in denen alte Seilschaften nach wie vor das Sagen haben, inszenierten permanente Schmutzkampagnen gegen die Wahrheitskommission. Kein Mitglied der Regierung ließ sich auf der zweitägigen Bilanzkonferenz blicken, die mit einem großen Polizeiaufgebot gesichert werden musste.
15 der 54 vorbereiteten Musterprozesse für die schwersten Verbrechen wie Mord, Vergewalti- gung, Folter oder jahrelange politische Haft, laufen inzwischen vor den eigens geschaffenen 13 Sondertribunalen. In Archivkellern reihen sich die Ordner wie in der Stasi-Behörde in Berlin, darunter Exemplare spezieller Unterschriftenlisten. Mehr als 15.000 Tunesier waren der „administrativen Kontrolle“unterworfen, eine Praxis, die noch aus der französischen Kolonialzeit stammt. Nach ihrer Haftzeit mussten sich die Betroffenen jahrelang täglich auf der Polizeiwache melden, manche zweimal pro Tag, andere alle zwei Stunden. „Ich war neun Jahre im Gefängnis, aber die Zeit danach war noch viel schlimmer“, berichtete Oula ben Nejma, die selbst der Wahrheitskommission angehört. Die Opfer seien seelisch stranguliert worden. Sie konnten ihren Wohnbezirk nicht verlassen, ihre Ehen zerbrachen und sie verloren ihre Arbeit. Mindestens sechs Menschen habe diese teuflische Praxis in den Selbstmord getrieben, auch das steht in der IVD-Bilanz.
Der komplette Schlussbericht soll am 31. Dezember, dem letzten Tag der Kommission, der Staatsspitze übergeben werden. Er listet die Namen aller Misshandelten auf und macht Reformvorschläge, da- mit sich ein derartiger Missbrauch staatlicher Macht nicht wiederholt. Mindestens 10.000 der 50.000 Betroffenen sollen in den nächsten Jahren eine finanzielle Abgeltung erhalten, die übrigen 40.000 vom Staatspräsidenten offiziell als Verfolgte der Diktatur anerkannt werden, um ihnen zumindest eine symbolische Wiedergutmachung anzubieten. 150 bis 200 Millionen Euro sind nach Einschätzung der Wahrheitskommission nötig. Zugesagt hat die Regierung bisher 300.000 Euro. Weitere Mittel sollen aus Geldstrafen von Korruptionsverfahren kommen, von denen bisher nur zwei abgeschlossen worden sind – dazu schweigt die Regierung.
„Die Opfer der Tyrannei haben ein Recht auf Entschädigung, das ist keine milde Gabe, das ist eine Pflicht des Staates“, beschwor Bensedrine in ihrem Schlussplädoyer die politische Führung, ein Appell, der im Publikum mit Skepsis aufgenommen wurde. Viele Opfer haben Angst, dass sie am Ende leer ausgehen. „Wenn die Wahrheitskommission ihren Bericht übergeben hat, ist sie weg“, klagte ein älterer Mann, der sich sechs Jahre lang vor den staatlichen Häschern in den Bergen verstecken musste. „Doch was wird dann aus uns?“.