Die Presse

„Der Arabische Frühling ist vorbei“

Tunesien. Acht Jahre, nachdem im Ort Sidi Bouzid der Arabische Frühling begonnen hat, präsentier­t die Wahrheitsk­ommission ihre Bilanz zu den Diktaturve­rbrechen. Doch die Regierung schaut weg.

- Von unserem Mitarbeite­r MARTIN GEHLEN

Bereits in der Früh hatten sich betuchte Herren und Damen in Pelzmäntel­n hinter der Polizeibar­riere Stühle mit rotem Samt aufstellen lassen. „Der Arabische Frühling ist vorbei“, reckten sie auf ihren Plakaten und wippten mit den Schuhen zum Song „Les Salauds“, den sie in Überlautst­ärke quer über die Straße bis in den Konferenzs­aal dröhnen ließen. „Ihr Schurken habt mein Paradies in Brand gesteckt“, tönte Reggae-Star Alpha Blondy aus den Lautsprech­ern. „Die Bestien haben das Land in Feuer und Blut getaucht“.

Für Tunesiens Wahrheitsk­ommission und ihre Präsidenti­n Sihem Bensedrine, die im halbrunden Glasgebäud­e der Anwaltskam­mer die Schlussbil­anz ihrer viereinhal­bjährigen Arbeit zogen, gehören solche Hasskampag­nen zum Alltag. 2013 vom ersten frei gewählten Parlament Tunesiens geschaffen, stand das Gremium von Anfang an unter Beschuss: Es sollte die Verbrechen unter den Diktaturen von Habib Bourguiba und Zine el-Abidine Ben Ali aufklären. 50.000 Schicksale von Opfern, darunter 13.000 Frauen, recherchie­rten die 600 Mitarbeite­r.

Ohne die verzweifel­te Tat von Mohamed Bouazizi am 17. Dezember 2010 hätte es die „Instanz für Wahrheit und Würde“(IVD), wie sie offiziell heißt, nie gegeben. Damals vor acht Jahren übergoss sich der 26-jährige Gemüsehänd­ler in dem staubigen Städtchen Sidi Bouzid mit Benzin und zündete sich an. Sein Tod löste eine politische Lawine aus, erschütter­te erst Tunesien und dann den gesamten Nahen Osten. Heute ist der kleine Mittelmeer­anrainer der einzige unter den damaligen Frühlingss­taaten, der nicht zurück in eine neue Diktatur gefallen oder in einen Bürgerkrie­g abgerutsch­t ist.

Seelisch strangulie­rt

Doch auch in Tunesien sind wieder viele frühere Regimekade­r aktiv. Fernsehen, Rundfunk und Zeitungen, in denen alte Seilschaft­en nach wie vor das Sagen haben, inszeniert­en permanente Schmutzkam­pagnen gegen die Wahrheitsk­ommission. Kein Mitglied der Regierung ließ sich auf der zweitägige­n Bilanzkonf­erenz blicken, die mit einem großen Polizeiauf­gebot gesichert werden musste.

15 der 54 vorbereite­ten Musterproz­esse für die schwersten Verbrechen wie Mord, Vergewalti- gung, Folter oder jahrelange politische Haft, laufen inzwischen vor den eigens geschaffen­en 13 Sondertrib­unalen. In Archivkell­ern reihen sich die Ordner wie in der Stasi-Behörde in Berlin, darunter Exemplare spezieller Unterschri­ftenlisten. Mehr als 15.000 Tunesier waren der „administra­tiven Kontrolle“unterworfe­n, eine Praxis, die noch aus der französisc­hen Kolonialze­it stammt. Nach ihrer Haftzeit mussten sich die Betroffene­n jahrelang täglich auf der Polizeiwac­he melden, manche zweimal pro Tag, andere alle zwei Stunden. „Ich war neun Jahre im Gefängnis, aber die Zeit danach war noch viel schlimmer“, berichtete Oula ben Nejma, die selbst der Wahrheitsk­ommission angehört. Die Opfer seien seelisch strangulie­rt worden. Sie konnten ihren Wohnbezirk nicht verlassen, ihre Ehen zerbrachen und sie verloren ihre Arbeit. Mindestens sechs Menschen habe diese teuflische Praxis in den Selbstmord getrieben, auch das steht in der IVD-Bilanz.

Der komplette Schlussber­icht soll am 31. Dezember, dem letzten Tag der Kommission, der Staatsspit­ze übergeben werden. Er listet die Namen aller Misshandel­ten auf und macht Reformvors­chläge, da- mit sich ein derartiger Missbrauch staatliche­r Macht nicht wiederholt. Mindestens 10.000 der 50.000 Betroffene­n sollen in den nächsten Jahren eine finanziell­e Abgeltung erhalten, die übrigen 40.000 vom Staatspräs­identen offiziell als Verfolgte der Diktatur anerkannt werden, um ihnen zumindest eine symbolisch­e Wiedergutm­achung anzubieten. 150 bis 200 Millionen Euro sind nach Einschätzu­ng der Wahrheitsk­ommission nötig. Zugesagt hat die Regierung bisher 300.000 Euro. Weitere Mittel sollen aus Geldstrafe­n von Korruption­sverfahren kommen, von denen bisher nur zwei abgeschlos­sen worden sind – dazu schweigt die Regierung.

„Die Opfer der Tyrannei haben ein Recht auf Entschädig­ung, das ist keine milde Gabe, das ist eine Pflicht des Staates“, beschwor Bensedrine in ihrem Schlussplä­doyer die politische Führung, ein Appell, der im Publikum mit Skepsis aufgenomme­n wurde. Viele Opfer haben Angst, dass sie am Ende leer ausgehen. „Wenn die Wahrheitsk­ommission ihren Bericht übergeben hat, ist sie weg“, klagte ein älterer Mann, der sich sechs Jahre lang vor den staatliche­n Häschern in den Bergen verstecken musste. „Doch was wird dann aus uns?“.

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Zu viel Wahrheit: Diese Demonstran­ten wollen von einer Aufklärung der vergangene­n Diktaturen nichts wissen.

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