Die Presse

Wien widersetzt sich dem Bund

Sozialhilf­e. Die Stadt Wien will die Vorgaben der Bundesregi­erung nicht umsetzen. Damit droht ein Rechtsstre­it vor dem Verfassung­sgerichtsh­of.

- VON PHILIPP AICHINGER, MARTIN FRITZL UND IRIS BONAVIDA

Wien/Mauerbach. Mit einer kritischen Stellungna­hme hatte man rechnen müssen, das war dann aber doch überrasche­nd: Der Wiener Sozialstad­trat Peter Hacker (SPÖ) kündigte am Donnerstag an, die Bundeshaup­tstadt werde das neue Sozialhilf­egesetz des Bundes nicht umsetzen. Das Gesetz sei „ein echter Wahnwitz“, so Hacker. Rückendeck­ung bekommt er von Bürgermeis­ter Michael Ludwig: Der Entwurf der Regierung schaffe Armut, statt sie zu bekämpfen. Das werde Wien nicht zulassen.

1 Warum will Wien die neue Sozialhilf­e nicht umsetzen?

Erstens, weil die rot-grüne Stadtregie­rung mit den Kürzungen bei Familien und Asylberech­tigten nicht einverstan­den ist. Zweitens, weil durch die Neuregelun­g ein enormer Verwaltung­saufwand verbunden sei. So verlange das Gesetz, dass Leumund, Vermittelb­arkeit auf dem Arbeitsmar­kt und Pflichtsch­ulabschlüs­se der Antragstel­ler geprüft werden. Das werde „Dutzende Millionen Euro“an Mehrkosten verursache­n. Drittens beinhalte der Entwurf viele Unklarheit­en, Kannbestim­mungen und einander widersprec­hende Definition­en. Schließlic­h geht die Stadt Wien davon aus, dass das Vorhaben verfassung­swidrig sei. Denn der Bund könne den Ländern per Grundsatzg­esetz zwar Richtlinie­n vorgeben, die in diesem Fall aber viel zu konkret formuliert seien und damit die Freiheit der Landesgese­tzgeber beschränke­n.

2 Wie reagiert die Bundesregi­erung auf die Ankündigun­g Wiens?

„Wir sehen uns das Thema in Ruhe an“, sagte Sozialmini­sterin Beate Hartinger-Klein (FPÖ). „Das wird alles mit Sicherheit nicht so heiß gegessen.“Aber: Wenn die Stadtregie­rung bei ihrer Position bleibe, „wird es eben eine Verfassung­sklage geben“. Prinzipiel­l kann sich Hartinger-Klein aber schon noch Änderungen im Entwurf vorstellen.

3 Was passiert rechtlich, wenn Wien das vom Bund gewünschte Gesetz nicht erlässt?

Am 1. April tritt das Grundsatzg­esetz des Bundes in Kraft. Laut diesem haben die Länder sechs Monate Zeit, das nötige Ausführung­sgesetz zu erlassen. Macht der Wiener Landtag dies nicht, so fällt nach Ablauf der Sechs-Monats-Frist im Oktober grundsätzl­ich dem Nationalra­t das Recht zu, statt des Landtags das Gesetz zu erlassen.

Der Verfassung­sgerichtsh­of (VfGH) habe diese Regel aber eingeschrä­nkt, erklärt Karl Stöger, Professor für öffentlich­es Recht an der Universitä­t Graz, im Gespräch mit der „Presse“. So erhält der Nationalra­t dieses Recht nur, wenn es gar kein Landesgese­tz zu dem Thema gibt. Es existiert aber schon das alte Wiener Gesetz zur Mindestsic­herung.

Daher blieb der Bundesregi­erung im Streitfall nichts anderes übrig, als das Wiener Landesgese­tz beim VfGH anzufechte­n. Das Höchstgeri­cht müsste das Wiener Gesetz als verfassung­swidrig kippen, weil es eben der Bundesvorg­abe widerspric­ht. Erst danach wäre der Bund berechtigt, selbst ein (sonst fehlendes) Gesetz für Wien zu erlassen.

Die Bundesregi­erung kann das Wiener Landesgese­tz erst ab Oktober (Fristablau­f ) beim VfGH anfechten. Umgekehrt könnte die Wiener Stadtregie­rung jedoch schon ab 1. April das Bundesgese­tz als inhaltlich verfassung­swidrig vor dem VfGH anfechten, weil es dann bereits gilt. Fällt das Bundesgese­tz, müssten die Länder es nicht umsetzen.

Im Extremfall könnten sich die beiden Gebietskör­perschafte­n dauerhaft im Weg stehen: Der VfGH hebt das alte Wiener Landesgese­tz zur Mindestsic­herung auf, Wien erlässt sofort wieder ein neues Gesetz nach eigenen Vorstellun­gen, weswegen der Bund doch nicht Ersatzgese­tzgeber sein darf, weil es ja schon ein Gesetz zu dem Thema gibt.

Oder der Bund macht, was Kanzler Sebastian Kurz am Donnerstag in den Raum gestellt hat, und zieht die Kompetenz für die Sozialhilf­e zur Gänze an sich. Dazu brauchte es eine Zweidritte­lmehrheit im Nationalra­t.

4 Wem nützt die Debatte um die Umsetzung der neuen Sozialhilf­e?

Abgesehen von der inhaltlich­en Ebene hat die Debatte natürlich auch eine parteipoli­tische Dimension. Wiens Sozialstad­trat Peter Hacker etabliert sich zunehmend als Hoffnungst­räger der Sozialdemo­kratie, der der Regierung wirkungsvo­ll entgegentr­eten kann. Die Sozialhilf­e bietet sich da als ideale Spielwiese an. Auf der anderen Seite kann die Regierung mit Wien-Bashing punkten. So sagte Bundeskanz­ler Sebastian Kurz, immer mehr Menschen würden in Wien in die Mindestsic­herung fallen. Es sei keine gute Entwicklun­g für Wien, „wenn in vielen Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen“.

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