Wien widersetzt sich dem Bund
Sozialhilfe. Die Stadt Wien will die Vorgaben der Bundesregierung nicht umsetzen. Damit droht ein Rechtsstreit vor dem Verfassungsgerichtshof.
Wien/Mauerbach. Mit einer kritischen Stellungnahme hatte man rechnen müssen, das war dann aber doch überraschend: Der Wiener Sozialstadtrat Peter Hacker (SPÖ) kündigte am Donnerstag an, die Bundeshauptstadt werde das neue Sozialhilfegesetz des Bundes nicht umsetzen. Das Gesetz sei „ein echter Wahnwitz“, so Hacker. Rückendeckung bekommt er von Bürgermeister Michael Ludwig: Der Entwurf der Regierung schaffe Armut, statt sie zu bekämpfen. Das werde Wien nicht zulassen.
1 Warum will Wien die neue Sozialhilfe nicht umsetzen?
Erstens, weil die rot-grüne Stadtregierung mit den Kürzungen bei Familien und Asylberechtigten nicht einverstanden ist. Zweitens, weil durch die Neuregelung ein enormer Verwaltungsaufwand verbunden sei. So verlange das Gesetz, dass Leumund, Vermittelbarkeit auf dem Arbeitsmarkt und Pflichtschulabschlüsse der Antragsteller geprüft werden. Das werde „Dutzende Millionen Euro“an Mehrkosten verursachen. Drittens beinhalte der Entwurf viele Unklarheiten, Kannbestimmungen und einander widersprechende Definitionen. Schließlich geht die Stadt Wien davon aus, dass das Vorhaben verfassungswidrig sei. Denn der Bund könne den Ländern per Grundsatzgesetz zwar Richtlinien vorgeben, die in diesem Fall aber viel zu konkret formuliert seien und damit die Freiheit der Landesgesetzgeber beschränken.
2 Wie reagiert die Bundesregierung auf die Ankündigung Wiens?
„Wir sehen uns das Thema in Ruhe an“, sagte Sozialministerin Beate Hartinger-Klein (FPÖ). „Das wird alles mit Sicherheit nicht so heiß gegessen.“Aber: Wenn die Stadtregierung bei ihrer Position bleibe, „wird es eben eine Verfassungsklage geben“. Prinzipiell kann sich Hartinger-Klein aber schon noch Änderungen im Entwurf vorstellen.
3 Was passiert rechtlich, wenn Wien das vom Bund gewünschte Gesetz nicht erlässt?
Am 1. April tritt das Grundsatzgesetz des Bundes in Kraft. Laut diesem haben die Länder sechs Monate Zeit, das nötige Ausführungsgesetz zu erlassen. Macht der Wiener Landtag dies nicht, so fällt nach Ablauf der Sechs-Monats-Frist im Oktober grundsätzlich dem Nationalrat das Recht zu, statt des Landtags das Gesetz zu erlassen.
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) habe diese Regel aber eingeschränkt, erklärt Karl Stöger, Professor für öffentliches Recht an der Universität Graz, im Gespräch mit der „Presse“. So erhält der Nationalrat dieses Recht nur, wenn es gar kein Landesgesetz zu dem Thema gibt. Es existiert aber schon das alte Wiener Gesetz zur Mindestsicherung.
Daher blieb der Bundesregierung im Streitfall nichts anderes übrig, als das Wiener Landesgesetz beim VfGH anzufechten. Das Höchstgericht müsste das Wiener Gesetz als verfassungswidrig kippen, weil es eben der Bundesvorgabe widerspricht. Erst danach wäre der Bund berechtigt, selbst ein (sonst fehlendes) Gesetz für Wien zu erlassen.
Die Bundesregierung kann das Wiener Landesgesetz erst ab Oktober (Fristablauf ) beim VfGH anfechten. Umgekehrt könnte die Wiener Stadtregierung jedoch schon ab 1. April das Bundesgesetz als inhaltlich verfassungswidrig vor dem VfGH anfechten, weil es dann bereits gilt. Fällt das Bundesgesetz, müssten die Länder es nicht umsetzen.
Im Extremfall könnten sich die beiden Gebietskörperschaften dauerhaft im Weg stehen: Der VfGH hebt das alte Wiener Landesgesetz zur Mindestsicherung auf, Wien erlässt sofort wieder ein neues Gesetz nach eigenen Vorstellungen, weswegen der Bund doch nicht Ersatzgesetzgeber sein darf, weil es ja schon ein Gesetz zu dem Thema gibt.
Oder der Bund macht, was Kanzler Sebastian Kurz am Donnerstag in den Raum gestellt hat, und zieht die Kompetenz für die Sozialhilfe zur Gänze an sich. Dazu brauchte es eine Zweidrittelmehrheit im Nationalrat.
4 Wem nützt die Debatte um die Umsetzung der neuen Sozialhilfe?
Abgesehen von der inhaltlichen Ebene hat die Debatte natürlich auch eine parteipolitische Dimension. Wiens Sozialstadtrat Peter Hacker etabliert sich zunehmend als Hoffnungsträger der Sozialdemokratie, der der Regierung wirkungsvoll entgegentreten kann. Die Sozialhilfe bietet sich da als ideale Spielwiese an. Auf der anderen Seite kann die Regierung mit Wien-Bashing punkten. So sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz, immer mehr Menschen würden in Wien in die Mindestsicherung fallen. Es sei keine gute Entwicklung für Wien, „wenn in vielen Familien nur mehr die Kinder in der Früh aufstehen, um zur Schule zu gehen“.