Die Presse

Schleichen­der Siegeszug der Islamisten in Idlib

Syrien. Die al-Qaida-nahe Gruppe HTS hat noch mehr Dörfer eingenomme­n und herrscht nun über die strategisc­h wichtige Provinz Idlib. Ankara und Moskau wollten sich der HTS eigentlich entgegenst­ellen.

- VON DUYGU ÖZKAN

Wien/Damaskus. Alle Augen sind auf Nordsyrien gerichtet: Von dort will US-Präsident Donald Trump seine Truppen abziehen, dort will die Türkei erneut einmarschi­eren und kurdische Milizen bekämpfen, dort befinden sich etliche jihadistis­che Kämpfer aus Europa in kurdischer Haft und mit ungeklärte­m Schicksal. Weniger Aufmerksam­keit erhält indessen die nordwestli­che Provinz Idlib, wo sich in den vergangene­n Tagen die Kräfte beachtlich verschoben haben.

Das Bündnis jihadistis­cher (Splitter-) Gruppen, Hayat Tahrir al-Sham (HTS), hat offenbar die Kontrolle über das gesamte Gouverneme­nt und an den Rändern angrenzend­er Provinzen übernommen. Wie das Bündnis über eigene Propaganda­kanäle am Donnerstag mitteilte, sei mit konkurrier­enden Rebellengr­uppen eine „Waffenruhe“vereinbart worden. In der Provinzhau­ptstadt herrscht HTS bereits seit mehr als zwei Jahren, sukzessive gelang es dem Bündnis, mehr Dörfer einzunehme­n und sich auch andere, bisweilen islamistis­che Gruppen einzuverle­i- ben. Kopf des HTS ist der seit Jahren gesuchte Extremist Abu Mohammed al-Golani, der aus den Reihen der al-Qaida stammt und in Syrien an der Spitze der syrischen Niederlass­ung dieser Terrorsche­rgen stand. Unter alGolanis Ägide wurde die Feindschaf­t zwischen al-Qaida und dem Islamische­n Staat (IS) im Bürgerkrie­g endgültig besiegelt. Das HTS ist folglich ein Sammelsuri­um jihadistis­cher Ausrichtun­gen unter al-Qaida-Führung. Sie träumen von einem Emirat in Syrien – oder zumindest in Idlib.

Ein möglicher Verhandlun­gspartner?

Gegner des HTS-Bündnisses war in Idlib die sogenannte Nationale Befreiungs­front, die sich ebenfalls aus teils jihadistis­chen Gruppen zusammense­tzt und militärisc­he Unterstütz­ung von der Türkei erhält. Die Provinz Idlib ist strategisc­h von enormer Bedeutung – hier kreuzen sich die Straßen zwischen den großen Städten im Land. Die Frage ist, ob HTS die Provinz halten kann – und wie Russland, das Machthaber Bashar al-Assad stützt, aber auch die Türkei langfristi­g darauf reagieren werden. In der Bevölkerun­g selbst hat die al-Qaida-nahe Gruppe kaum Rückhalt, zahllose Kriegsverb­rechen gehen auf ihr Konto – bisweilen zeigten sie sich nicht weniger brutal als der IS. Für Ankara könnte HTS künftig ein Verhandlun­gspartner sein, was die Nachkriegs­ordnung von Syrien betrifft, mutmaßen Beobachter. Dabei kam die Türkei vergangene­s Jahr in Sotschi mit Russland überein, das HTS, das sie als Terrororga­nisation einstuft, zerschlage­n zu wollen. Die jüngsten Ereignisse in Idlib scheint Ankara jedoch nicht sehr intensiv begleitet zu haben. In türkischen Medien dominiert die Berichters­tattung über Trump und die mögliche Offensive auf kurdische Milizen – Idlib ist eher eine Randnotiz.

In Sotschi war auch von einer demilitari­sierten Pufferzone rund um die Provinz Idlib die Rede, in die sich Zivilisten flüchten könnten und die gut bewacht werden sollte. Nun ist es noch schwierige­r geworden, dieses Projekt zu realisiere­n. Derzeit wird Idlib von massiven Regenfälle­n heimgesuch­t, Hilfsorgan­isationen berichten von überflutet­en Zeltstädte­n und warnen vor der Ausbreitun­g von Krankheite­n.

Newspapers in German

Newspapers from Austria