Die Wiener und der Schnee
Stadtleben. Brauner Matsch und Splitt im Schuhprofil – Winter in der Großstadt spielt auf einem anderen Planeten als im Rest des Landes.
Lawinengefahr? Schneeverwehungen? In Wien sieht der Winter ziemlich anders aus – vor allem nach braunem Matsch und Splitt.
Es gibt keinen echten Winter mehr. Aus Wiener Sicht ist der Befund recht eindeutig. Ja, es hat schon zeitweise ganz ordentlich heruntergeschneit in den letzten Tagen. Aber abgesehen von ein bisschen Splitt auf dem Gehsteig und ein paar Häufchen Schneerest am Straßenrand ist in großen Teilen der Stadt nicht mehr allzu viel davon übrig.
Höchste Lawinenwarnstufe in mehreren Bundesländern? Von Schneemassen blockierte Straßen? Eingeschneite Häuser, deren Bewohner per Hubschrauber versorgt werden müssen? Es fühlt sich in Wien so an, als kämen Meldungen wie diese von einem anderen Planeten.
Kein Winter Wonderland
Wien und der Schnee, das ist eine Beziehung, die in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend abgekühlt ist. Man kennt ihn schon, aber „walking in a winter wonderland“spielt es in großen Teilen der Stadt einfach nicht. Da muss man schon in die höher gelegenen Regionen gehen, auf die Hausberge im Westen, über die Höhenstraße fahren oder auf einem der Stadtwanderwege durch Wälder mit Schneehaube wandern. Vielleicht ist auch noch der Schlosspark Schönbrunn postkartentauglich. Aber das war es dann auch schon.
Die übliche Wiener Winterlandschaft ist braun. Wenn der Schneepflug traurige Haufen aus Eismatsch und Steinen an den Straßenrand geschoben hat, die aussehen wie Stracciatellaeis – nur dass das Verhältnis von Weiß zu Braun umgekehrt ist. Das bisschen Schnee, das liegen bleibt, ist feucht und schwer. Ungeeignet für eine Schneeballschlacht, unbrauchbar für den Schneemannbau.
Und Rodeln? Ja, das geht schon irgendwie. Manchmal. Die Stadt stellt von 1. November bis 31. März Strecken zur Verfügung – etwa am St.-Ulrichs-Platz im 7. Bezirk. Allein, ein paar Strohballen am Fuß des Hügels reichen noch nicht, wenn das Kopfsteinpflaster nicht auch noch von ein paar Zentimetern Schnee bedeckt ist. Und das ist es halt meist nicht.
Der Wiener Schneerhythmus beginnt in der subjektiven Wahrnehmung irgendwann im November – der erste Schnee auf der Außenringautobahn ist die finale Erinnerung, am Auto die Winterreifen zu montieren. Dann bleibt es, ob warm oder kalt, vor allem trocken. Zu Weihnachten fällt definitiv kein Schnee, dafür setzt gegen Ende der Weihnachtsferien eine manchmal sogar ganz heftige Niederschlagsphase ein. Und dann, dann kann man eigentlich schon auf den Frühling warten, von kurzen Wintereinbrüchen abgesehen, bei denen der Schnee allerdings auch schnell wieder weg ist.
Damals, es muss um 1986 gewesen sein, da war Wien tatsächlich noch winterlich. Auf dem Karlsplatz lag eine dichte Schneedecke, auf dem Stephansplatz konnte man eine Schneeballschlacht machen. Hätte es damals Instagram gegeben, wäre das soziale Netzwerk wohl unter der Last der Wiener Winterästhetik zusammengebrochen. Nun, Instagram gibt es heute zwar, nur mit dem Schnee hapert es halt. Und wenn er dann doch gelegentlich kommt, werden Blicke aus dem Fenster auf verschneite Autos und Dächer gepostet, versehen mit Hashtags wie
endlichschnee.
Schneechaos im Boulevard
Ungefähr zur gleichen Zeit beginnt der Boulevard auch schon vom Schneechaos zu schreiben. Für dieses Schlagwort reicht es in der Regel, dass auf einer hügeligen Straße ein Auto nicht mehr weiterkommt oder eine Straßenbahn mit mehr als fünf Minuten Verspätung in eine Station eingefahren ist. Dass eine Großstadt bei Schneefall nicht genauso glatt laufen kann wie bei trockenem Wetter, ist logisch – in Wien gehört aber das Jammern offenbar zum winterlichen Soundtrack der Stadt, so klischeehaft das jetzt auch ist.
Der romantische Klang von knirschendem Schnee ist in der Wiener Soundlandschaft ein Exot. Nein, Winter in Wien klingt weniger harmonisch – er hört sich an wie das morgendliche Kratzen des Schneepflugs auf dem Asphalt. Wie das Scharren der Schneeschaufeln der Hausbetreuung auf dem Gehsteig. Und wie das Knirschen der Eingangstür auf dem Vorzimmerboden, wenn wieder ein Stück Splitt in den Spalt geraten ist, das man sich mit der Schuhsohle in die Wohnung geholt hat.
Mit umso erstaunterem Blick schaut der Wiener in Tagen wie diesen dann in die Bundesländer, aus denen Bilder von meterhohem Schnee kommen. Also gibt es ihn doch noch, den echten Winter. Ja, schon. Nur halt nicht in Wien.