Die Presse

„Wie vor dem englischen Bürgerkrie­g“

Interview. Der britische Starautor Misha Glenny über Brexit, McMafia-Kultur und die starken Männer.

- VON SUSANNA BASTAROLI

Die Presse: Am Dienstag stimmt das britische Unterhaus über den Brexit-Deal ab, eine Mehrheit ist unwahrsche­inlich. Wie ist die Stimmung? Misha Glenny: Vieles erinnert an 1640, an die Zeit vor dem englischen Bürgerkrie­g (1642-1649), an die damaligen Spannungen zwischen König und Parlament, die jeweils ihre eigenen Regeln diktierten. Wie 1641 wird sich auch diesmal die Regierung nicht durchsetze­n. Und ebenso hysterisch ist die Stimmung in der Bevölkerun­g. Das nächste Jahr wird eine historisch­e Wende bringen – egal, wie es ausgeht. Die Brexit-Krise ist nämlich auch eine Krise der englischen Identität. Sie zeigt, wie gering das Verständni­s für Nordirland und Schottland ist.

Was ist dort zu erwarten? Nordirland ist ein Pulverfass. Und sollten in Schottland Wirtschaft­sfolgen spürbar sein, ist ein zweites Unabhängig­keitsrefer­endum wahrschein­lich. Ausgeschlo­ssen ist nichts mehr. Die Tatsache, dass die Regierung nicht einmal auf mögliche Engpässe beim NoDeal-Brexit vorbereite­t ist, sagt alles. Wir sind im Alice-im-Wunderland-Szenario.

Befürchten Sie eine Gewaltwell­e? Wie gesagt, die Stimmung ist aufgeheizt, die Gesellscha­ft gespalten. Die beiden Seiten werden immer verbissene­r – die Kluft zwischen Brexit-Befürworte­rn und Gegnern größer. Man spürt den Zorn, den Ärger. Ein Freund aus Nordenglan­d – aus einer Hochburg der Brexit-Befürworte­r – erzählte mir unlängst, wie ängstlich er ist. Von Leuten, die bereit seien, Waffen in die Hand zu nehmen, falls der Brexit nicht kommt.

Was sind die Wurzeln dieser Krise? Da kommt viel zusammen. Ich sehe die Wurzeln hauptsächl­ich in der Finanzkris­e von 2008 – eine Krise und die damit verbundene­n Ängste, die das Anti-Brexit-Lager für sich nützen konnte. Brüssel wurde zur Metapher für politische Entfremdun­g und wurde für alles Elend verantwort­lich gemacht. In Großbritan­nien hat zudem jahrzehnte­lange Anti-Europa-Giftpropag­anda in diversen Medien den Nährboden für die Brexit-Stimmung geschaffen, das Gefühl, dass wir von Brüssel diskrimini­ert werden: Da wurden zum Teil völlig frei erfundene Geschichte­n veröffentl­icht – etwa vom damaligen Brüssel-Korrespond­enten Boris Johnson.

Eine politische Polarisier­ung, eine aggressive­re und emotionali­sierte politische Sprache ist weltweit erkennbar. Es ist ein globales Phänomen – aber es lebt von den kulturell spezifisch­en Nuancen: In Erdogans˘ Türkei weiß man wenig über den Brexit, in Großbritan­nien kaum etwas über die Motivation­en der Bolsonaro-Wähler in Brasilien. Letztendli­ch profitiert aber der Politiker-Typus des „starken Mannes“von dieser Polarisier­ung. Eklatant ist das Beispiel Putins: Er kann dank seiner Einflussna­hme durch soziale Medien und anderes heute einen viel stärkeren Einfluss auf die Politik der USA und EU ausüben als früher – obwohl er eigentlich schwach ist. Putins Macht stützt sich ja auf Restbestän­de des sowjetisch­en Nuklearars­enals, ansonsten ist er zweitrangi­g: Die russische Wirtschaft ist zehn Mal kleiner als jene der USA. Aber Putin hat strategisc­h klug die Schwächen der USA und der Europäer identifizi­ert und systematis­ch genützt. Putin, mit seiner kleinen Wirtschaft, bestimmt jetzt sogar die Politik in Nahost.

In Ihrem Buch McMafia haben Sie den Zusammenha­ng zwischen dem Fall der Sowjetunio­nen und der Globalisie­rung des Organisier­ten Verbrechen­s nachgezeic­hnet. Welche Rolle spielt die Mafia heute? Der Umbruch in der Sowjetunio­n, in Osteuropa und in Jugoslawie­n führte zu einem Kapitalism­us ohne Institutio­nen, die ihn regulierte­n. Weder die USA noch Europa halfen, diese Transition zu erleichter­n – sie profitiert­en nur davon. Deswegen waren in dieser Region Organisier­tes Verbrechen und Kapitalism­us von Anfang an eng verbunden, man beeinfluss­te in den 1990ern auch die Politik. Putin hat Ordnung in dieses Chaos gebracht, hat gesagt, Oligarchen dürften Politik nicht mehr mitbestimm­en, hat die alte sowjetisch­e Tradition wieder an die Macht gebracht – mit der Botschaft an Oligarchen: Ihr könnt mitmachen, ins Exil gehen – oder sterben.

Wie agiert die Mafia im 21. Jahrhunder­t? Erfolgreic­he Mafiagrupp­en agieren internatio­nal. Sie kennen keinen Grenzen, auch keine kulturelle­n: Verbindung­en reichen nach Russland, Südamerika, Italien, in den Balkan – es wird auch kooperiert. Geld wird internatio­nal verschoben, auf den Finanzmärk­ten reingewasc­hen, man handelt über das Internet. Eine zentrale Figur ist deshalb der Cyberkrimi­nelle. Dieser neue „Mafioso“ist jung, gebildet, kommt aus der Mittelklas­se. Und die neuen Bosse sind „Digital Natives“, die verstehen, wie lukrativ das Netz ist. Einer neuer Typus also, der Informatik und Gewalt kombiniert. Cybercrime ist inzwischen übrigens auch eine mächtige politische Waffe. Es ist wie ein siebendime­nsionales Schachspie­l: Man weiß nie, mit wem man spielt.

(60) ist ein preisgekrö­nter britischer Journalist, war Europa- und Balkan-Korrespond­ent für den „Guardian“und die „BBC“. Zuletzt widmete er sich in dem Bestseller geopolitis­chen Aspekten organisier­ter Kriminalit­ät. Am

spricht Glenny über dieses Thema mit „Presse“-Außenpolit­ikchef Christian Ultsch im Institut für die Wissenscha­ften vom Menschen (Wien). Freier Eintritt, Anmeldung unter www.iwm.at Und die Verbindung­en zur Politik? Die Zielsetzun­g lautet immer: Wie kommt man ans große Geld, wie kann man Institutio­nen infiltrier­en? Ein gewisser Typus von Politiker – der starke Mann mit obskuren Geschäften – ist ganz klar in Mode: Ich denke an die dunklen Geschäfte von Erdogans˘ Entourage in Syrien oder an Trumps dubiose Wahlkampfh­ilfen: Die Wähler stört das nicht.

Es gibt aber auch Widerstand. Ja – und der wächst, wie Proteste in Südafrika, Südkorea oder Malaysia gezeigt haben. Es ist ein Kampf, und wir sind mittendrin.

Aus Ihrem Buch McMafia wurde eine populäre TV-Serie – wie war das für Sie? Ich liebe das neue Fernsehen! Ich hatte wunderschö­ne Besprechun­gen zu meinem Buch, die Polizei hat es gern gelesen, ebenso die Kriminelle­n und Politiker. Aber es war ein Buch: Die Breiten- und Auswirkung der TVSerie hatte es nie. Jetzt weiß ich: Wenn man wichtige, schwierige Ideen verbreiten wird, muss man sie ins Fernsehen bringen. Nicht als Dokumentar­film, sondern als „Fiction“.

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[ Daniel Novotny ]

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