„60.000 sind schwer vermittelbar“
Interview. Die Hälfte der Langzeitarbeitslosen lebt in Wien. Viele von ihnen hätten gelernt, mit sehr wenig Geld auszukommen. Da bringe Druck wenig, sagt Wiens AMS-Chefin Petra Draxl.
Die Presse: Fangen wir positiv an. Was macht Wien, bezogen auf die Arbeitslosigkeit, besser als andere große Städte? Petra Draxl: Wir unterstützen Menschen sehr gut und sehr präzise bei dem, was sie brauchen, um wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. Wir haben in Relation zu anderen Städten mehr Zuzug. Die Migration aus den Nachbarländern ist in Wien viel stärker als zum Beispiel in München. Wien hat einen großen Beitrag geleistet, um diese Menschen zu integrieren.
Wien ist in Österreich der Hotspot der Arbeitslosigkeit. 2018 sank die Arbeitslosigkeit in der Hauptstadt um 4,8 Prozent, österreichweit um 7,6 Prozent. Warum der große Unterschied? Das Arbeitskräftepotenzial, also die Menschen, die auf den Arbeitsmarkt drängen, sinkt in vielen Regionen, in Wien steigt es. Wir haben den größten Anteil an jungen Menschen und an Zuzüglern. Arbeitsplätze werden nicht nur aus der Arbeitslosigkeit besetzt. Sondern auch mit Menschen, die zuwandern oder dem Arbeitsmarkt neu zur Verfügung stehen, wie Jugendliche oder Frauen nach der Karenz. Diese Faktoren wiegen in Wien viel stärker als in Restösterreich. In Mürzzuschlag herrscht Vollbeschäftigung. Da ist man froh über jeden, der nicht in Pension geht oder der aus der Arbeitslosigkeit einen Job annimmt.
Wer bildet die größten Problemgruppen unter den Arbeitslosen in Wien? Menschen, die keine Ausbildung haben. Die Hälfte der 156.000 Arbeitslosen in Wien hat maximal die Pflichtschule abgeschlossen. Das ist unser Hauptproblem. Gefolgt von älteren Menschen, insbesondere ab 55 Jahren. Die Langzeitarbeitslosigkeit beschäftigt uns massiv, also Menschen, die länger als zwölf Monate ohne Job sind. In Wien sind 60.000 Arbeitslose als schwer vermittelbar eingestuft.
Sie meinen die sogenannte Sockelarbeitslosigkeit, die Ökonomen große Sorgen bereitet. Das sind Menschen, die auch in guten Zeiten keine Arbeit finden. Genau. Wir sind nicht so industrielastig. Wir haben den IT-Sektor, der braucht hoch qualifizierte Arbeitskräfte. Aber die Industrie, die Facharbeiter, aber auch Hilfsarbeiter sucht, haben wir in Wien nicht.
Die Hälfte der Langzeitarbeitslosen lebt in Wien, im Dezember fast 70.000. Wie kriegt man die Sockelarbeitslosigkeit weg? Kriegt man sie überhaupt weg? Wir stellen gerade das System um. Wir schauen uns genau an, welche Intervention für welche Gruppe richtig ist. Für Menschen mit mittleren Chancen investieren wir stärker in Qualifizierung, sie sollen Ausbildungen machen. Das sind Menschen, die maximal vier Monate arbeitslos, jünger und etwas besser qualifiziert sind, schon mehr gearbeitet haben. Für Menschen mit niedrigen Arbeitsmarktchancen ist Beratung besser. Da schauen wir, wo sind die Probleme, wie motiviert sind sie, wo wollen sie hin. Sie haben oft viele Probleme auf einmal, wie Schulden oder Krankheiten. Druck bringt bei diesen Menschen nichts.
Aber was ist daran jetzt neu? Wie hat man das vorher gemacht? Vorher haben wir auch Personen, deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt begrenzt sind, Ausbildungen nahegelegt. Da wurde viel angefangen und wieder abgebrochen. Das ist rausgeworfenes Geld. Wir müssen vorher schauen, ob
leitet seit 2012 das Wiener Arbeitsmarktservice. Davor war sie Abteilungsleiterin im Sozialministerium. Draxl ist Steirerin und studierte Pädagogik, Psychologie und Soziologie. Sie arbeitete unter anderem als selbstständige Beraterin. Ende 2017 wurde ihr Vertrag bis 2024 verlängert.
waren Ende Dezember inklusive Schulungsteilnehmern knapp 156.000 Arbeitslose gemeldet. In ganz Österreich waren es 414.00. die Person das überhaupt schaffen kann. Wenn nicht, soll sie lieber etwas anderes machen.
Das heißt, man wird realistischer und prüft genauer, wer überhaupt noch Chancen hat, in seinem Leben Arbeit zu finden. Man muss für beide Gruppen Ressourcen zur Verfügung stellen. Beratung kostet 800 Euro im Jahr, ein Arbeitsplatz im sozialökonomischen Betrieb 25.000 Euro. Wir müssen sehr genau schauen, wer das kriegt. 25 Prozent der Teilnehmer an Beratungsprogrammen finden danach einen Job. Wenn wir eine teure Qualifizierung anbieten, wie einen Fachhochschullehrgang, reicht uns das nicht. Da erwarten wir deutlich mehr als 50 Prozent. Da muss man eine Kosten-Nutzen-Rechnung machen.
Der Bundeskanzler sagt, dass in Wien in immer mehr Familien nur die Kinder aufstehen, um in die Schule zu gehen. Er insinuiert, dass es sich mehr Menschen in der Mindestsicherung gemütlich machen. Hat er recht? Ich habe wenig Interesse, mich in den Konflikt einzumischen. Mir ist wichtig, dass es bei der Mindestsicherung eine einheitliche Regelung gibt. Nur etwa ein Drittel der Bezieher ist beim AMS gemeldet. Über die anderen können wir nichts sagen. Es hat immer schon diese fünf bis acht Prozent der Arbeitslosen gegeben, bei denen wir hinterfragen, ob sie arbeiten wollen. Der Anteil hat sich nicht geändert.
Die Koalition will die Notstandshilfe abschaffen, um Arbeitsanreize zu setzen. Eine gute Idee? Ich tue mir schwer, das zu bewerten, weil noch kein Modell vorliegt. Laut Vizekanzler Strache (FPÖ, Anm.) bleibt ja ein unbegrenztes Arbeitslosengeld, wenn man lang gearbeitet hat. Entscheidend ist, wie viele Versicherungsjahre man braucht, um Anspruch zu haben. Die Idee, in den ersten Monaten mehr Arbeitslosengeld zu zahlen, ist gut. Man braucht schon sechs Monate, um einen neuen Job zu finden. Es ist gut, in der Zeit abgesichert zu sein. Die Frage wird sein, wie schnell man in die Mindestsicherung rutscht.
Allgemeiner gefragt: Bringt man Menschen in Arbeit, indem man droht, die Bezüge zu kürzen? Für einen Teil der Personen erhöht es den Druck, und damit werden sicher mehr Menschen Arbeit aufnehmen. Die Frage ist, was ist der längerfristige Effekt. Sie nehmen dann sicher rascher eine Arbeit an, die nicht ihrer Qualifikation entspricht. Es gibt eine Gruppe, deren Einkommen auf dem Arbeitsmarkt so gering ist, dass sie keinen spürbaren Unterschied zur Notstandshilfe oder Mindestsicherung haben. Wer lang arbeitslos ist, hat oft gelernt, mit sehr wenig Geld auszukommen. Da gibt es den PushEffekt nicht.
Da könnte man auch argumentieren, dass die Sozialleistungen zu hoch sind. Ja, aber die können nicht so niedrig sein, dass sie ihren Zweck nicht erfüllen. Der ist, das Mindestmaß zur Verfügung zu stellen, was die Menschen zum Leben brauchen. Sonst führt man sie in die Armut. Das ist für uns alle schlecht.