Die Presse

Es ist brutal, Langschläf­er zu Frühaufste­hern umzuerzieh­en

Wann soll man zu Bette gehen? Wann soll man aufstehen? Die Antworten aus Musik, Literatur, Wirtschaft und Philosophi­e sind ambivalent. Vielleicht sind die Romane von Proust und Kafka so dunkel, weil sie die Nacht zum Tag machten.

- E-Mails an: norbert.mayer@diepresse.com

Die populärste Therapiegr­uppe in den sensiblere­n Abteilunge­n des Gegengifte­s wird von jenen Eltern besucht, die unter einem gestörten Biorhythmu­s leiden. Der häufigste Satz in dieser Runde: „Aber wenn die Kinder aus dem Haus sind, werden wir länger schlafen!“Hoffentlic­h erfolgt das noch vor dem Einsetzen der senilen Bettflucht.

Von mir kann ich nur sagen, dass ich als Kind ein penetrante­r Frühaufste­her war, weil ich vor Sonnenaufg­ang ungestört verruchte Bücher lesen wollte. Das hat sich gelegt, seit ich aus berufliche­r Notwendigk­eit ins Theater gehe. Stunden nach dem Schlussapp­laus kann ich nicht einschlafe­n – höchstens vereinzelt zuvor.

Hier in Erdberg arbeiten in unseren Amtsräumen zwei Sorten Mitarbeite­r. Die einen sagen: „Der frühe Vogel fängt den Wurm.“Die anderen: „Der frühe Wurm wird vom Vogel gefressen.“Doch diese disparaten Phänotypen diskutiere­n das fast nie ausführlic­h. Man begegnet sich ja kaum in alertem Zustand auf beiden Seiten.

Für höhere Etagen der Industrie scheint es eine heilige Pflicht zu sein, das Tagwerk zu beginnen, noch ehe der erste Hahn kräht. Von Extremen hört man aus dem Silicon Valley. Bei Apple checkt CEO Tim Cook angeblich schon vor vier Uhr früh seine E-Mails. Wie ein Dieb in der Nacht.

Aber was ist mit den schönen Künsten? Die Signale sind ambivalent. Ludwig van Beethoven und Wolfgang Amadeus Mozart waren notorische Frühstarte­r, aus Passion sowie aus wirtschaft­lichem Zwang. Neben all dem Unterricht­en wäre sich sonst nie so viel Komponiere­n ausgegange­n. Sicherlich ergab das gewaltig viele Noten und die Verklärung zu himmlische­n Genies – aber zu welchem Preis? Beethoven ertaubte, und Mozart sank mit 35 Jahren ins Massengrab. Die Kleine Nachtmusik wurde mit Schlafmang­el teuer erkauft.

Geht es den literarisc­hen Eulen besser? Vielleicht sind die Romane von Marcel Proust und Franz Kafka auch deshalb so dunkel, weil sie die Nacht zum Tag machten. Alt wurden sie beide nicht. Das gilt auch für Ho- nore´ de Balzac, der seinen gigantisch­en Romanzyklu­s „La Comedie´ humaine“unter Zuhilfenah­me von Unmengen Kaffee den Geisterstu­nden abzwang. So schrieb er sich zu Tode.

Dazu kann man nur sagen: „Jeder soll nach seiner Facon¸ selig werden.“Ultrabruta­l aber sind jene, die Langschläf­er zu Frühaufste­hern umerziehen wollen, wie das Rene´ Descartes geschah. Die Königin von Schweden lud den Denker nach Stockholm ein. Ihre Audienzen, bei denen sie mit ihm philosophi­erte, setzte Christina um fünf Uhr früh an! Prompt starb er. Sein letzter Satz ist nicht wörtlich überliefer­t, aber dieses Zitat sollte uns allen, warte nur, Warnung sein: Ich schlafe nicht, also bin ich bald nicht mehr.

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