Es ist brutal, Langschläfer zu Frühaufstehern umzuerziehen
Wann soll man zu Bette gehen? Wann soll man aufstehen? Die Antworten aus Musik, Literatur, Wirtschaft und Philosophie sind ambivalent. Vielleicht sind die Romane von Proust und Kafka so dunkel, weil sie die Nacht zum Tag machten.
Die populärste Therapiegruppe in den sensibleren Abteilungen des Gegengiftes wird von jenen Eltern besucht, die unter einem gestörten Biorhythmus leiden. Der häufigste Satz in dieser Runde: „Aber wenn die Kinder aus dem Haus sind, werden wir länger schlafen!“Hoffentlich erfolgt das noch vor dem Einsetzen der senilen Bettflucht.
Von mir kann ich nur sagen, dass ich als Kind ein penetranter Frühaufsteher war, weil ich vor Sonnenaufgang ungestört verruchte Bücher lesen wollte. Das hat sich gelegt, seit ich aus beruflicher Notwendigkeit ins Theater gehe. Stunden nach dem Schlussapplaus kann ich nicht einschlafen – höchstens vereinzelt zuvor.
Hier in Erdberg arbeiten in unseren Amtsräumen zwei Sorten Mitarbeiter. Die einen sagen: „Der frühe Vogel fängt den Wurm.“Die anderen: „Der frühe Wurm wird vom Vogel gefressen.“Doch diese disparaten Phänotypen diskutieren das fast nie ausführlich. Man begegnet sich ja kaum in alertem Zustand auf beiden Seiten.
Für höhere Etagen der Industrie scheint es eine heilige Pflicht zu sein, das Tagwerk zu beginnen, noch ehe der erste Hahn kräht. Von Extremen hört man aus dem Silicon Valley. Bei Apple checkt CEO Tim Cook angeblich schon vor vier Uhr früh seine E-Mails. Wie ein Dieb in der Nacht.
Aber was ist mit den schönen Künsten? Die Signale sind ambivalent. Ludwig van Beethoven und Wolfgang Amadeus Mozart waren notorische Frühstarter, aus Passion sowie aus wirtschaftlichem Zwang. Neben all dem Unterrichten wäre sich sonst nie so viel Komponieren ausgegangen. Sicherlich ergab das gewaltig viele Noten und die Verklärung zu himmlischen Genies – aber zu welchem Preis? Beethoven ertaubte, und Mozart sank mit 35 Jahren ins Massengrab. Die Kleine Nachtmusik wurde mit Schlafmangel teuer erkauft.
Geht es den literarischen Eulen besser? Vielleicht sind die Romane von Marcel Proust und Franz Kafka auch deshalb so dunkel, weil sie die Nacht zum Tag machten. Alt wurden sie beide nicht. Das gilt auch für Ho- nore´ de Balzac, der seinen gigantischen Romanzyklus „La Comedie´ humaine“unter Zuhilfenahme von Unmengen Kaffee den Geisterstunden abzwang. So schrieb er sich zu Tode.
Dazu kann man nur sagen: „Jeder soll nach seiner Facon¸ selig werden.“Ultrabrutal aber sind jene, die Langschläfer zu Frühaufstehern umerziehen wollen, wie das Rene´ Descartes geschah. Die Königin von Schweden lud den Denker nach Stockholm ein. Ihre Audienzen, bei denen sie mit ihm philosophierte, setzte Christina um fünf Uhr früh an! Prompt starb er. Sein letzter Satz ist nicht wörtlich überliefert, aber dieses Zitat sollte uns allen, warte nur, Warnung sein: Ich schlafe nicht, also bin ich bald nicht mehr.