Wie viel darf ein Reporter erfinden?
Journalismus. Eintauchen in das Leben der anderen, Anklage und Erschütterung durch große Texte – das alles wurde ermöglicht durch Reportagen. Nun geriet das Genre mit seiner besonderen Erlebnisqualität durch einen Skandal in Verruf.
Entweder Baseballspieler oder Journalist: Das wollte Tom Wolfe, geboren 1930 in Richmond, Virginia, werden. Harte Würfe also oder tolle Entwürfe. Er entschied sich für Letzteres. Er erinnerte sich an eine Biografie Napoleons, die er als kleiner Junge gelesen hatte, der erste Satz war: „Eine junge Frau sitzt in einem Zelt, in einem Umhang gehüllt stillt sie ihr Baby und lauscht einem fernen Rumpeln und Brüllen.“
Der großartige, im Präsens fabulierende Eingangssatz Emil Ludwigs hat aus Wolfe einen Verfasser von Texten gemacht. Er bekam bei der „Washington Post“eine Anstellung und wurde der Begründer des „New Journalism“. Gerade die berühmtesten Reportagen von Wolfe waren diejenigen, die ihm mit fiktiven Ergänzungen total aus dem Ruder gerieten: Aus einer Reportage über Banker in Manhattan wurde der weltberühmte Roman „Fegefeuer der Eitelkeiten“.
Es gab schon zuvor Autoren, die in ihren besten Texten den Journalismus für die Literatur und umgekehrt die Literatur für den Journalismus öffneten. Es entstanden literarische Reportagen, über die Salman Rushdie schrieb, sie seien eine Mixtur aus Reportage und Kunst, ihr Stil verleihe den beschriebenen Fakten eine zweite Dimension.
James Agee dokumentierte 1936 zusammen mit dem Fotografen Walker Evans den harten Alltag der Baumwollpflücker in Alabama. Acht Wochen lebte er mit den bitterarmen Familien, die wie Sklaven schufteten, auf den Feldern und in ihren Hütten. Sein Buch darüber wurde bejubelt als ein Werk, das die traditionellen Formen und Grenzen des Journalismus hinter sich ließ. Literarisch komplexe Passagen von poetischer Schönheit wechselten ab mit akkurat recherchierten Berichten. Es seien dies, sagte Agee, keine journalistischen Aufzeichnungen im gebräuchlichen Sinn des Wortes, die so etwas wie Objektivität, emotionale und stilistische Zurückhaltung implizierten. Es ging darum, Erfahrungen, Gefühle und Gedanken möglichst unmittelbar darzustellen.
Karl Kraus hasste das: „Der Reporter, der als Kehrichtsammler der Tatsachenwelt sich nützlich machen könnte, kommt immer mit einem Fetzen Poesie gelaufen, den er irgendwo im Gedränge an sich gerissen hat.“Er meinte auch Österreichs berühmtesten Journalisten, Egon Erwin Kisch. Dieser schrieb zwar im Vorwort zu seinem „Rasenden Reporter“: „Der Reporter hat keine Tendenz, hat nichts zu rechtfertigen und hat keinen Standpunkt.“Doch er hielt sich selbst nicht daran, als er später Haltung dem Elend der Welt gegenüber forderte, am besten mit einem „anklägerisches Kunstwerk“.
Er war eben nicht der kühle Beobachter der Welt, sondern bezog sich selbst mit ein in die Reportagen, egal, ob er über das Londoner Chinesenviertel oder ein besonders schauriges Leichenschauhaus schrieb. Eine Fülle an malerischen Details machten die Texte spannend. Ob erfunden oder real: egal. Bei seiner Reise durch die Sowjetunion 1925/26 trieften seine Texte von parteilichem Kitsch.
Ryszard Kapus´cin´ski war ab 1962 einer der berühmtesten Berichterstatter aus den Krisengebieten der Welt. Wo immer ein Bür- gerkrieg ausbrach, war der 2007 verstorbene polnische Starreporter zur Stelle. In der Dritten Welt erlebte er „Geschichte in Aktion“. Niemand kam auf die Idee, seine Arbeitsmethoden zu hinterfragen, es waren eben besondere Reportagen. 2014 enthüllte ein Warschauer Kollege, Kapus´cin´ski sei dem Geschehen oft nicht so nahe gewesen, wie er vorspielte. Manche abenteuerlichen Erlebnisse seien pure Erfindungen gewesen.
Kapus´cin´ski sah sich als Sprachrohr der Armen und Unterdrückten. Der Menschen, die vom Leid der anderen erzählen. Mehr als durch die reinen Informationen wird durch solche Texte Erschütterung hervorgerufen, aus der wir als „Schutzgeimpfte gegen die Unmenschlichkeit“(Alexander Kluge) hervorgehen. Gesellschaften brauchen nach Kluge diesen emotionalen Erfahrungstransfer, sie brauchen Erzählungen über das, was die Weltgemeinschaft gern ausblendet. Sind da Einzelheiten wichtig? Das „Wortwörtliche“, wie es Robert Menasse in einer ersten Stellungnahme formulierte? 1964 schrieb „Der Spiegel“in einer Hausmitteilung: „Wir verzichten auf die Reportage mit ihrem Stimmungsgehalt, ihrem kurzlebigen Regenbogenschimmer und ihrer Subjektivität. Wir beschäftigen keine rasend-rücksichtslosen Reporter, sondern Redakteure, die in wissenschaftlicher Arbeit bewandert sind.“Man hätte sich wohl die jüngste Affäre rund um fantasiereich ausgeschmückte Reportagen von Claas Relotius erspart, hätte man sich daran gehalten.
Die Aufregung war so groß, dass das Genre der Reportage prinzipiell infrage gestellt wurde. Nach der Empörung folgt das Nachdenken, zum Beispiel über das „schöne Schreiben“versus die genaue Abbildung der Wirklichkeit. Angelika Overath schrieb darüber in der „FAZ“, nicht jede Imagination sei eine Fälschung. Wirklichkeit werde in der Reportage durch das Temperament des Autors gesehen: „Sie ist im besten Fall subjektiv und objektiv zugleich.“Overath ist zu danken: Für die Verteidigung der Reportage gegen ihre Verächter und Zerstörer.