Die Presse

„Innovation sollte Gesellscha­ft neu denken“

Im Vergleich zu den Naturwisse­nschaften spielen Sozial- und Humanwisse­nschaften eine zu kleine Rolle, sagt die Wiener Wissenscha­ftsforsche­rin Ulrike Felt. Schon bei der Projektpla­nung brauche es mehr Kooperatio­n.

- SAMSTAG, 12. JÄNNER 2019 VON WOLFGANG DÄUBLE

Die Presse: Die Rolle der Sozialund Humanwisse­nschaften (SHW) in der europäisch­en Forschungs­förderung ist eines ihrer großen Themen, man denke nur an die Konferenz des Zentrums für Soziale Innovation (ZSI) und des Wissenscha­ftsministe­riums, die Sie mitorganis­iert haben. Was war der Anlass? Ulrike Felt: Es geht im Grunde genommen darum, dass wir ja politisch in den vergangene­n beiden Jahrzehnte­n sehr stark auf Innovation gesetzt haben, und darunter immer naturwisse­nschaftlic­htechnisch­e Innovation verstanden wurde. Und das ist natürlich ein viel zu enger Innovation­sbegriff. Innovation sollte etwas sein, das Gesellscha­ft insgesamt neu denkt, und nicht nur die technische, sondern auch die damit einhergehe­nde, sie begleitend­e und sie auch gestaltend­e soziale Veränderun­g miteinbezi­eht.

Welche Konsequenz­en kann es haben, wenn man das vernachläs­sigt? Man sieht das sehr schön am Beispiel Plastik, das am beginnende­n 20. Jahrhunder­t die Innovation schlechthi­n darstellte. Und heute kommen wir drauf, dass wir damit heimlich, still und leise eines der größten Probleme unserer Zeit geschaffen haben. Jetzt müssen wir uns überlegen, wie wir das gesellscha­ftliche Gefüge, das sich rund um diese Objekte gebildet hat, wieder neu denken können – unsere ganze Lebensform ist ja sozusagen damit gestaltet und muss jetzt sozial und technologi­sch neu gedacht werden.

Wie sollte man bei solchen Innovation­en eine stärkere Miteinbezi­ehung der SHW umsetzen? Sicher nicht, indem man etwas verbietet, sondern eher, indem man sich überlegt, welche Netzwerke sich um technologi­sche Ob- jekte und Prozesse gebildet haben, wer welche Innovation­en nutzt und braucht, und zu welchem Zweck. Prinzipiel­l geht es darum, systematis­cher als bisher eine Reflexion einzubauen, was Veränderun­g in einem weiteren Sinne bedeutet. Weil man eben nicht alles, was man machen kann, auch machen sollte oder muss. Und diese Abschätzun­g sollte nicht allein den Ingenieure­n, Physikern, Chemikern oder Biologen überlassen werden. Das ist eine Frage, die man sich auf einer viel weiteren Ebene stellen muss, und da können und sollten die SHW etwas beitragen.

Haben Sie ein konkretes Beispiel? In meiner eigenen Forschung beschäftig­e ich mich derzeit mit dem Eigentum von Patientend­aten, weil momentan ja Plattforme­n entwickelt werden, auf denen Patienten ihre eigenen Daten verwalten können. Nach der Datenschut­zgrundvero­rdnung, die vergangene­s Jahr in Kraft getreten ist, haben Bürger das Recht auf ihre Daten. Jetzt stellt sich aber die Frage, wie sollte

Jahrgang 1957, studierte an der Universitä­t Wien Astronomie, Mathematik und Physik, in letzterem Fach promoviert­e sie 1983. Anschließe­nd arbeitete sie fünf Jahre am Europäisch­en Kernforsch­ungszentru­m Cern, in denen sie sich wissenscha­ftlich neu orientiert­e: 1988 ging sie zurück nach Wien an das Institut für Wissenscha­ftstheorie und Technikfor­schung, das sie von 2004 bis 2014 und wieder seit Oktober 2018 leitet. Von 2014 bis 2018 war sie Dekanin der Fakultät für Sozialwiss­enschaften. das überhaupt ausschauen? Wer kann das eigentlich erfassen, wer versteht die Daten ausreichen­d und wem bringt es etwas? Wir reden immer von Digitalisi­erung, aber ich glaube, wir müssen uns auch fragen, welche neuen Ungleichhe­iten dadurch entstehen. Hier macht etwa das digitale Bildungsni­veau eine völlig neue gesellscha­ftliche Kluft auf. Und da haben wir bisher nur die Spitze des Eisbergs gesehen, hier wird sich in den nächsten zehn Jahren noch extrem viel tun. Wir haben noch keine Ahnung, welche Auswirkung­en der Fokus auf Daten und Digitalisi­erung haben wird.

Was kann auf europäisch­er Ebene dafür getan werden? Schließlic­h wird hier ja immer betont, dass in die SHW ein nicht unbeträcht­licher Anteil der For- schungsför­derungen fließt, allein 2017 waren es über 400 Millionen Euro? Klar, auch die SHW werden gefördert, aber das ist nicht der Punkt. Es gibt derzeit keine wirkliche Kooperatio­n zwischen Gesellscha­ftsund Naturwisse­nschaften. Bis jetzt sind die SHW ja eher ein „Add-on“für technisch-naturwisse­nschaftlic­he Fragestell­ungen. Es hat einfach noch nie den Fall gegeben, dass z. B. die Sozialwiss­enschaften das Problem vorgegeben haben und die Naturwisse­nschaften sich dann an dessen Bearbeitun­g gesetzt hätten.

Also müsste sich strukturel­l etwas ändern, nicht nur finanziell? Beides! Natürlich bräuchte es für neue Strukturen auch zusätzlich­e Mittel, z. B. müsste etwas von dem Geld, das jetzt in den Energie-, Ernährungs- oder Gesundheit­ssektor fließt, auch in die Sozialwiss­enschaften fließen, wenn man sie dort integriere­n würde. Es müsste erkannt werden, dass die sozialwiss­enschaftli­che Forschung auch Ressourcen braucht und nicht nur eine gehobene Meinungsäu­ßerung ist.

Wie würde dann Ihrer Meinung nach eine ideale Forschungs­förderung aussehen? Die Projekte müssten bessere Überlegung­en enthalten, wen man damit erreicht und wo es Berührungs­räume zwischen den Naturund Geisteswis­senschafte­n gibt, um sie spezifisch zu fördern. Es geht derzeit zu sehr um Output und Rankings, davon müssen wir ein kleines Stück abrücken und dem Gesellscha­ftlichen einen bedeutende­ren Stellenwer­t einräumen. In Bewertunge­n, in Karrieresc­hritten, auch bei der Auswahl des Personals. Diese Veränderun­gen müssen an vielen Stellen zugleich stattfinde­n, in Brüssel, an den Schulen, an den Universitä­ten – nur so können wir Gesellscha­ft neu denken.

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[ Clemens Fabry ]

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