„Innovation sollte Gesellschaft neu denken“
Im Vergleich zu den Naturwissenschaften spielen Sozial- und Humanwissenschaften eine zu kleine Rolle, sagt die Wiener Wissenschaftsforscherin Ulrike Felt. Schon bei der Projektplanung brauche es mehr Kooperation.
Die Presse: Die Rolle der Sozialund Humanwissenschaften (SHW) in der europäischen Forschungsförderung ist eines ihrer großen Themen, man denke nur an die Konferenz des Zentrums für Soziale Innovation (ZSI) und des Wissenschaftsministeriums, die Sie mitorganisiert haben. Was war der Anlass? Ulrike Felt: Es geht im Grunde genommen darum, dass wir ja politisch in den vergangenen beiden Jahrzehnten sehr stark auf Innovation gesetzt haben, und darunter immer naturwissenschaftlichtechnische Innovation verstanden wurde. Und das ist natürlich ein viel zu enger Innovationsbegriff. Innovation sollte etwas sein, das Gesellschaft insgesamt neu denkt, und nicht nur die technische, sondern auch die damit einhergehende, sie begleitende und sie auch gestaltende soziale Veränderung miteinbezieht.
Welche Konsequenzen kann es haben, wenn man das vernachlässigt? Man sieht das sehr schön am Beispiel Plastik, das am beginnenden 20. Jahrhundert die Innovation schlechthin darstellte. Und heute kommen wir drauf, dass wir damit heimlich, still und leise eines der größten Probleme unserer Zeit geschaffen haben. Jetzt müssen wir uns überlegen, wie wir das gesellschaftliche Gefüge, das sich rund um diese Objekte gebildet hat, wieder neu denken können – unsere ganze Lebensform ist ja sozusagen damit gestaltet und muss jetzt sozial und technologisch neu gedacht werden.
Wie sollte man bei solchen Innovationen eine stärkere Miteinbeziehung der SHW umsetzen? Sicher nicht, indem man etwas verbietet, sondern eher, indem man sich überlegt, welche Netzwerke sich um technologische Ob- jekte und Prozesse gebildet haben, wer welche Innovationen nutzt und braucht, und zu welchem Zweck. Prinzipiell geht es darum, systematischer als bisher eine Reflexion einzubauen, was Veränderung in einem weiteren Sinne bedeutet. Weil man eben nicht alles, was man machen kann, auch machen sollte oder muss. Und diese Abschätzung sollte nicht allein den Ingenieuren, Physikern, Chemikern oder Biologen überlassen werden. Das ist eine Frage, die man sich auf einer viel weiteren Ebene stellen muss, und da können und sollten die SHW etwas beitragen.
Haben Sie ein konkretes Beispiel? In meiner eigenen Forschung beschäftige ich mich derzeit mit dem Eigentum von Patientendaten, weil momentan ja Plattformen entwickelt werden, auf denen Patienten ihre eigenen Daten verwalten können. Nach der Datenschutzgrundverordnung, die vergangenes Jahr in Kraft getreten ist, haben Bürger das Recht auf ihre Daten. Jetzt stellt sich aber die Frage, wie sollte
Jahrgang 1957, studierte an der Universität Wien Astronomie, Mathematik und Physik, in letzterem Fach promovierte sie 1983. Anschließend arbeitete sie fünf Jahre am Europäischen Kernforschungszentrum Cern, in denen sie sich wissenschaftlich neu orientierte: 1988 ging sie zurück nach Wien an das Institut für Wissenschaftstheorie und Technikforschung, das sie von 2004 bis 2014 und wieder seit Oktober 2018 leitet. Von 2014 bis 2018 war sie Dekanin der Fakultät für Sozialwissenschaften. das überhaupt ausschauen? Wer kann das eigentlich erfassen, wer versteht die Daten ausreichend und wem bringt es etwas? Wir reden immer von Digitalisierung, aber ich glaube, wir müssen uns auch fragen, welche neuen Ungleichheiten dadurch entstehen. Hier macht etwa das digitale Bildungsniveau eine völlig neue gesellschaftliche Kluft auf. Und da haben wir bisher nur die Spitze des Eisbergs gesehen, hier wird sich in den nächsten zehn Jahren noch extrem viel tun. Wir haben noch keine Ahnung, welche Auswirkungen der Fokus auf Daten und Digitalisierung haben wird.
Was kann auf europäischer Ebene dafür getan werden? Schließlich wird hier ja immer betont, dass in die SHW ein nicht unbeträchtlicher Anteil der For- schungsförderungen fließt, allein 2017 waren es über 400 Millionen Euro? Klar, auch die SHW werden gefördert, aber das ist nicht der Punkt. Es gibt derzeit keine wirkliche Kooperation zwischen Gesellschaftsund Naturwissenschaften. Bis jetzt sind die SHW ja eher ein „Add-on“für technisch-naturwissenschaftliche Fragestellungen. Es hat einfach noch nie den Fall gegeben, dass z. B. die Sozialwissenschaften das Problem vorgegeben haben und die Naturwissenschaften sich dann an dessen Bearbeitung gesetzt hätten.
Also müsste sich strukturell etwas ändern, nicht nur finanziell? Beides! Natürlich bräuchte es für neue Strukturen auch zusätzliche Mittel, z. B. müsste etwas von dem Geld, das jetzt in den Energie-, Ernährungs- oder Gesundheitssektor fließt, auch in die Sozialwissenschaften fließen, wenn man sie dort integrieren würde. Es müsste erkannt werden, dass die sozialwissenschaftliche Forschung auch Ressourcen braucht und nicht nur eine gehobene Meinungsäußerung ist.
Wie würde dann Ihrer Meinung nach eine ideale Forschungsförderung aussehen? Die Projekte müssten bessere Überlegungen enthalten, wen man damit erreicht und wo es Berührungsräume zwischen den Naturund Geisteswissenschaften gibt, um sie spezifisch zu fördern. Es geht derzeit zu sehr um Output und Rankings, davon müssen wir ein kleines Stück abrücken und dem Gesellschaftlichen einen bedeutenderen Stellenwert einräumen. In Bewertungen, in Karriereschritten, auch bei der Auswahl des Personals. Diese Veränderungen müssen an vielen Stellen zugleich stattfinden, in Brüssel, an den Schulen, an den Universitäten – nur so können wir Gesellschaft neu denken.