Die ganz und gar nicht feinen Unterschiede
Frauen leben länger, haben ein vernünftigeres Gesundheitsverhalten, aber einen größeren Anteil an kranken Lebensjahren als Männer. Die Gendermedizin sucht nach Antworten, Trans- und Intersexualität werfen neue Fragen auf.
Es gibt nicht nur Mann und Frau. Diese Realität kommt langsam beim Gesetzgeber an – in Österreich seit einem Urteil des Verfassungsgerichtshofes im Sommer und zuletzt in Deutschland, wo seit 1. Jänner „divers“als Überbegriff für Geschlechtervarianten im Geburtenregister erlaubt ist. In der medizinischen Forschung hingegen dominierte lange Zeit die Eingeschlechtlichkeit: Der prototypische Proband war 35 Jahre alt, weiß, männlich und 80 Kilogramm schwer.
Aspirin wurde zum Beispiel vor seiner Patentierung 1899 an keiner einzigen Frau erprobt – heute weiß man um die unterschiedliche (Neben-)Wirkung des regelmäßig eingenommenen Schmerzmittels, das Männer stärker vor Herzinfarkten schützt, dafür aber die Schlaganfallhäufigkeit bei Frauen verringert.
Immer noch sind Frauen bei Arzneimitteltests unterrepräsentiert, auch wenn im Schnitt zumindest ein Drittel der Studienteilnehmer weiblich ist. Mit ein Grund: Hormonveränderungen während des Zyklus, bei Schwangerschaften oder nach der Menopause machen Frauen zu einer heterogenen Zielgruppe. Das zu berücksichtigen macht Studien größer, aufwendiger und somit auch teurer.
Gendermedizin nennt sich jener Fachbereich, der augenfällige und subtile Unterschiede zwischen den Geschlechtern erforscht. Ziel ist es, klinisch relevante Erkenntnisse zu generieren und diese in die Praxis zu überführen. Die Gendermedizin versteht sich als integrativer Bestandteil einer personalisierten Medizin. In Österreich gibt es an den Unis Wien und Innsbruck eigene Lehrstühle dafür. Als die Internistin Alexandra KautzkyWiller ihre Professur 2010 antrat, war der Forschungsbereich ein wenig wahrgenommenes Nischenthema. „Anfangs wurden wir als feministische Hobbyforscher belächelt“, erinnert sich die Wissenschaftlerin. Heutzutage ist die Gendermedizin längst anerkannt, auch, weil die Datenlage nicht mehr ignoriert werden kann. Neben den körperlichen Unterschieden – wie Größe, Sexualhormone, Geschlechtschromosomen, Organe und Körperfett – spielen für Gesundheit, Krankheitsrisiko und Therapie genauso individueller Lebensstil und gesellschaftliche Einflüsse eine Rolle.
„Es geht Gendermedizinern nicht nur darum, zu sagen, Frauen seien benachteiligt. In manchen Bereichen können auch Männer – etwa bei der Früherkennung von Brustkrebs, Depression oder Osteoporose – benachteiligt sein. Es ist also keine Frauenmedizin, sondern es geht um beide Geschlechter“, betont Kautzky-Willer, die auch Obfrau der Österreichischen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin ist.
Aktuell werden in der Gendermedizin zunehmend weitere Faktoren, die über Mann- oder FrauSein hinausgehen, etwa Behinderung, Alter oder Bildung, in ihrer Wechselwirkung betrachtet. „Letztendlich hängen auch diese Aspekte aber ganz stark mit Geschlecht zusammen“, betont Kautzky-Willer. Trans- oder intersexuelle Menschen gleichberechtigt in allgemeine Studien miteinzubeziehen bringt die medizinische Forschung auch methodisch, etwa beim Finden von repräsentativen Stichproben, an ihre Grenzen. Ohnehin, so Kautzky-Willer, müsse man nach wie vor zufrieden sein, wenn bei Tests Männer und Frauen gleichermaßen einbezogen würden.
Nichtsdestotrotz will die Gendermedizin für die Zukunft bessere Klassifikationssysteme entwickeln. Um möglichst viele soziokulturelle und psychosoziale Aspekte adäquat in individueller Risikoabschätzung, Diagnose und Behandlung berücksichtigen zu können, wird derzeit an sogenannten Gender-Scores geforscht. Diese sollen nicht biologische Eigenschaften von Maskulinität und Femininität messbar und in Abstufung erfassbar machen. Alexandra KautzkyWiller ist Teil einer internationalen Gruppe unter kanadischer Federführung, die dazu forscht. Sie befasst sich mit chronischen Krankheiten und untersucht in einem laufenden Projekt, inwiefern Gender-Scores bessere Modelle für deren Risikoabschätzung und Behandlung liefern.
Während in der wissenschaftlichen Praxis das Bewusstsein für so hoch ist das Risiko von Frauen für Nebenwirkungen bei Medikamenten.
höher als bei Männern ist das Sterberisiko von Frauen im ersten Jahr nach einem Herzinfarkt.
leben Frauen in der EU im Schnitt länger als Männer. Allerdings ist die Lebenszeit von Männern im Vergleich zu einem größeren Anteil frei von Aktivitätseinschränkungen. geschlechtsspezifische Unterschiede zunehmend wächst, tut sich an der medizinischen Front bei Behandlung und Therapie wenig. „Obwohl es mittlerweile auch in Österreich viel Forschung dazu gibt, fließen deren Ergebnisse kaum in die Behandlungsleitlinien der Fachgesellschaften ein“, kritisiert Kautzky-Willer. Vielfach gebe es nicht einmal Empfehlungen. Anders im angloamerikanischen Raum, wo schon viele Fachgesellschaften lange Stellungnahmen zu den geschlechtsspezifischen Unterschieden und deren Umgang damit verfasst hätten – vor allem im Bereich Kardiologie.
Das kommt nicht von ungefähr, immerhin haben die Unterschiede von Herzerkrankungen bei Frauen und Männern die Gendermedizin in den 1980er-Jahren u. a. durch die Forschungen der USamerikanischen Kardiologin Marianne Legato überhaupt erst ins Rollen gebracht. Viele hoch dotierte amerikanische Forschungsförderungen unterstützen die Berücksichtigung von männlichen und weiblichen Tiermodellen sowie von Männern und Frauen als Testpersonen aktiv, u. a., indem sie die Mehrkosten dafür tragen.
Kautzky-Willers Schwerpunkt liegt auf der Erforschung geschlechtsspezifischer Unterschiede bei Adipositas, Diabetes, Endokrinologie und Stoffwechsel. Im Dezember publizierte sie gemeinsam mit einer Forschungsgruppe im Fachmagazin Diabetes Research and Clinical Practice eine Studie zu Unterschieden beim Stoffwechsel (Metabolismus): „Wir zeigen, dass gesunde Frauen zwar einen besseren Glukosestoffwechsel mit besserer Insulinempfindlichkeit und -ausschüttung haben, dass aber bereits mit Eintreten eines Prädiabetes die kardiometabolischen Vorteile von Frauen aufgehoben sind.“Das könnte auch erklären, warum Männer zwar häufiger Diabetes bekommen, warum aber beim Vorliegen der Stoffwechselstörung Frauen einen höheren Risikoanstieg für Herzinfarkt und Schlaganfall haben.