Verleugnete Verfolgung wird sichtbar
Bisher waren historische Filmaufnahmen wegen des empfindlichen Materials schwer zugänglich. Digitalisiert und online, eröffnen sich jetzt ungeahnte Forschungsmöglichkeiten.
Durch die Digitalisierung entsteht eine andere Art des Archivzugangs“, erklärt Ingo Zechner, Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts (LBI) für Geschichte und Gesellschaft. Das habe weitreichende Folgen: „Bisher bildeten der Archivar und sein Gedächtnis eine Schnittstelle oder einen Flaschenhals. Jetzt wird der Zugang auf technischer Ebene demokratisiert.“
Im Rahmen des im Horizon-2020-Programm geförderten EU-Projekts I-Media-Cities werden Filmaufnahmen aus neun europäischen Städten über einen Zeitraum von 90 Jahren online präsentiert und analysiert. Gibt der Nutzer beispielsweise das Stichwort „Straßenbahn“und „1930“ein, kann er so Aufnahmen von Straßenbahnen im Jahr 1930 aus Athen, Barcelona, Bologna, Brüssel, Frankfurt, Kopenhagen, Stockholm, Turin und Wien vergleichen.
Jeweils ein Filmarchiv und ein Forschungspartner in jeder Stadt digitalisieren und analysieren insgesamt 1200 Filme und mehr als 10.000 Fotografien. Die Filme werden Einstellung für Einstellung verzeichnet und mit Hintergrundinformationen versehen. Die detaillierten Beschreibungen bewegen sich wie Untertitel mit.
Historisch besonders aussagekräftig sind etliche Filme aus der NS-Zeit. „Während Wochenschaumaterial sehr kompakt Höhepunkte offizieller Ereignisse zeigt, machen Amateurfilme auch Spuren der Verfolgung im Jahr 1938 sichtbar, von denen es immer heißt, man hätte sie nicht gesehen“, erklärt Zechner. „Ein anderes Beispiel aus 1938 zeigt, dass am 12. März 1938 alles schon erledigt war“, so Zechner. Der Film trete den Beweis an, dass man die deutschen Nazis für die nationalsozialistische Machtübernahme in Österreich nicht gebraucht hat.
Dass Forschern künftig viel mehr Material zur Verfügung stehen wird als bisher, verändert die wissenschaftliche Arbeit in den „Digital Humanities“, den Geisteswissenschaften, erheblich. Wegen der Empfindlichkeit der historischen Filme, die man nur mit großer Vorsicht am Schneidetisch analysieren konnte, stützten sich Filmanalytiker und Historiker bislang auch „auf die Erinnerung an das einmal angesehene Material“. Es fehlte die Möglichkeit, die Eindrücke noch einmal zu überprüfen.
Durch die Digitalisierung wird eine genaue Mikroanalyse möglich. „Jetzt gibt es keine Ausreden mehr. Die Aussagen müssen schon entsprechend präzise ausfallen“, sagt Zechner. Auch hinsichtlich der Schlussfolgerungen sei durch die Vergleichsmöglichkeiten, die bei mehreren Filmen zu einem Thema bestehen, größere Sorgfalt geboten. „Es ist nicht mehr so leicht, einzelne Beispiele herauszugreifen und sie als repräsentativ für ein Phänomen darzustellen“, stellt der Wiener Historiker fest.
Zechner und sein Team haben 80 Wiener Filme ausgewählt: 40 aus der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums und 40 aus dem Filmarchiv der Media Wien, der Sammlung des Wiener Stadt- und Landesarchivs. Die frühere Landesbildstelle hat von den frühen 1920er-Jahren an politische Ereignisse sowie die Stadtentwick- lung auf Film dokumentiert. Amateurfilme zeigen neben politischen und gesellschaftlichen auch Alltagsereignisse, die es „nicht in die Geschichtsbücher schaffen“, wie Zechner sagt.
LBI-Archivarin Stefanie Zingl bereitet die Amateurfilme auf und versieht sie mit Hintergrundinformationen. Zu finden ist beispielsweise ein Amateurfilm der Wiener Familie Loebenstein aus den 1970er-Jahren. Ihr Kollege, der Historiker Jakob Zenzmaier, arbeitet mit einer vom Fraunhofer-Institut in Ilmenau (Deutschland) und vom italienischen Konsortium Cineca entwickelten Software an der Annotation, der Verschlagwortung. Es sei nicht einfach für die neun europäischen Projektteilnehmer gewesen, sich auf einen gemeinsamen Katalog dafür zu einigen, berichtet er. Einzelne Schlagworte werden automatisch durch den Algorithmus erkannt, darunter Personen(-gruppen), Tiere und Fahrzeuge. Die übrigen der rund 650 Schlagworte werden manuell annotiert, d. h. verschriftet.
Filmarchivar Raoul Schmidt vertritt im Projekt das Österreichische Filmmuseum: „So halten die Digital Humanities Einzug in ein bisher analoges Archiv.“Es sei nun eine „sehr tiefe inhaltliche Erfassung des Materials“möglich geworden, zumal durch die Verbindung mit Open Data Informationen aus dem Internet hinzugezogen und Orte durch Geo-Tagging, also durch Zuordnung von geografischen Koordinaten, lokalisiert werden können.