Magical Mystery Island Tour
Auf der Rückreise von der sibirischen Gefangeneninsel Sachalin machte Anton Tschechow ein paar Tage Zwischenstation auf Sri Lanka, das damals Ceylon hieß: „Ich kann sagen: Ich habe gelebt. Mir reicht es“, schrieb er an einen Freund, „ich war in der Hölle, auf Sachalin, und im Paradies, das heißt auf der Insel Ceylon.“
Was mich angeht, ich lebe in einem ebenerdigen Haus am Rand eines Resorts, fast schon im Dorf. Im Morgengrauen der Hahn, dann der Lastwagen des Fischhändlers, dann Mönchsgesänge vom Tempel herüber, untermischt mit diversen Vogelrufen, dem Getrappel der Leguane unterm Dach, dann mein Nachbar, der sich zwecks ritueller Reinigung täglich erbricht, zuletzt eventuell die Affen, die Palmblätter und abgeknabberte Kerne auf das Blechdach meiner Hütte herunterwerfen, dass es nur so knallt.
Sri Lanka hat ein ausgedehntes Eisenbahnnetz, ein gut ausgebautes Straßennetz. Das ins Auge springende Verkehrsmittel ist freilich der Bus: Vorn und hinten gerade abgeschnitten, ist er knallig bunt bemalt, innen für gewöhnlich ganz abgenutzt, stets bis auf den letzten Platz besetzt und meist vom Dröhnen eines voll aufgedrehten Ghettoblasters erfüllt. Es ist ein eigenartiges Vergnügen, dem Fahrer hinter seinem übergroßen Lenkrad zuzusehen, wie er jedes mögliche Hindernis in der Bahn – ob Auto, Lastwagen, Tuk-Tuk, Mopedfahrer oder Kuh – mit der Hupe aus dem Weg schafft, stets mit äußerster Rücksichtslosigkeit bemüht, möglichst rasch ans Ziel zu kommen: eine Art von Magical Mystery Tour.
Ein Dörfler, der in Colombo arbeitet, erzählt mir, dass er täglich zwei Stunden zur Arbeit fährt, zwei Stunden wieder heim, im überfüllten Zug: im Stehen, ohne Sitzplatz.
Die tea pluckers, die tamilischen Teepflücker in den Bergen: Zuletzt habe ich solch enterbte, verelendete Menschen vor vielen Jahren gesehen, Indios in Guatemala.
Der Arbeitselefant, von seinen Ketten losgebunden, legt sich die Ketten selbst mit dem Rüssel quer über den Nacken: Da hängen sie dann herunter, die Ketten.
Ausmaß und Anlage der Dörfer im Küstenland sind schwer zu erkennen. Ein Gewirr von schmalen Straßen, oft von Mauern gesäumt – dahinter leben die Wohlhabenderen und die Reichen –, in eine Art von gezähmtem Urwald gebahnt, in den immer wieder Wasserläufe, Sümpfe oder Abschnitte scheinbar naturbelassenen Waldes hereinreichen.
Die Hütten der Armen, entweder aus Bambusrohr gebaut, verputzt mit Lehm, das Dach aus Palmzweigen, ohne jeden Vorplatz oder sonst wie eingezäunt; oder aus unverputzten Betonsteinen aufgeführt, ein einziger Raum, mit Wellblech abgedeckt.
Die Villen der Reichen im umfriedeten Garten, oft in einer Art englischem Kolonialstil errichtet oder tatsächlich aus dieser Zeit stammend, meist auf einer Anhöhe gelegen, wo der Wind geht: Da gibt es keine Moskitos.
Meine Frau arbeitet in der hiesigen Schule, die sich in der Hauptsache aus den Einnahmen finanziert, die das Resort abwirft, in dem ich in meiner Enklave zu Gast bin: 1000 Schüler, 40 Lehrer, dazu eine Schneiderei, ein Computerlabor.
Der Tourist kommt für gewöhnlich kaum in Kontakt mit den Einheimischen, die ihm meist nur als Fahrer, Guide, Kellner oder Diener begegnen. Ein weiterer Typus ist der Beachboy, ein junger Mann, meist arbeitslos, der seine Dienste Vorüberkommenden anbietet – als Fremdenführer, als Agent für Gewürz- oder Edelsteinhändler, für Schildkrötenoder Krokodilfarmen, als Bettgenosse schließlich. Die Hotelgäste versammeln sich zu den Mahlzeiten an der großen Tafel, die Schüsseln sind wohlgefüllt, was übrig bleibt, nehmen die Boys mit heim. Die Strände in Sri Lanka, von etlichen touristischen Badeorten abgesehen, sind einsam. Von Sonnenlicht hart überstrahlt liegt die leere Bahn aus Sand. Mächtige Felsen grenzen irgendwo in der Ferne die Bucht ein.
Da und dort ein Mensch, ein Angler, ein Spaziergänger, ein beach comber. Nach hoher Flut ist der Strand von Treibgut gesäumt. An manchen Stellen kommt schon eine rechte Müllhalde zusammen. Die Brandung rollt die ganze Nacht durch, dringt in den Schlaf ein. Mir träumte von einem der liegenden oder ruhenden Bud sich die ausgestreckt liegende, riesenhafte Gestalt herein und langsam an mir vorüber. Freilich, auf dieser Welt hat nichts Bestand, nur der Wandel.
Die Tropennacht ist sehr dunkel. Vielleicht, weil der Tag so hell ist. In dieser Finsternis leuchten die Lampen in den Häusern der Armen noch kärglicher, die jetzt eingeräumten Waren in den Läden an den Hauptstraßen entlang schauen noch schäbiger aus. Nein, nicht schäbiger – als wären sie gar nicht zum Verkauf gedacht, sondern gleichsam nur Teil einer Installation, die etwa sagen will: Wir waren da, wir Menschen.
Der Fahrer vorn steigt aufs Gas. Ich schrecke aus dem Schlaf hoch, bin auf der langen Fahrt eingenickt. Grelle Lichter, eine Menschentraube, Polizei: „Was ist los?“, frage ich. „Ein Unfall“, sagt der Fahrer und fährt weiter.
Den Urwald kann keiner beschreiben. Von den Büchern der Botaniker zu einem Gang auf einem der Wege, die sich durch den Wald schlängeln, ist es unausdenkbar weit. Zu Anfang kann ich gar nicht recht unterscheiden, wo das Gartenland der Dörfler aufhört, wo der Wald anfängt. Überall nur Bäume, Gebüsch und Schmarotzerpflanzen, dazu die ganze Vielfalt an Blattpflanzen, Farnen, Aralien und so fort.
Vor dieser Vielfalt möchte man kapitulieren und sagen, es ist eine Welt aus Grün, aufgefächert und immer höher sich anbahnend, bis zu den mächtigen, dunkelgrünen Wipfeln der Bäume empor, die wiederum tausendfach vertäut, verheddert und verbunden sind mit der Erde, dem Unterwuchs. In all dies Grün zeichnen wir Blattformen hinein, Herzen, Mandeln, Schiffchen und Kreise, Gefiedertes auch, in Schöpfen oder Fingern, Händen, Ohren oder Zungen. All das können wir so weitertreiben, bis wir all unser Vokabular in den Wald hinein verwandelt, in Baum und Blatt zurückverwandelt haben: Denn naturgemäß kennt der Urwald auch Vorhänge, Betten, Teppiche, Fenster, Schleier, Stufen und Firste. Gehst du durch den Wald, wirst du nicht viel sehen. Deine Augen werden stets auf den Boden geheftet sein, der vielen Wurzeln und Steine wegen, oder weil du in Mulch oder Morast versinkst, zu versinken drohst. Du achtest auf die Netze der Spinnen, auf vielfaches Getier, das vor dir weghuscht, auf dornige Ranken und lästige Widerhaken. Und vor allem rinnt dir unablässig der Schweiß herunter, über Stirn und Wangen, und in die Augen hinein. Und dann sind da noch die vielen Geräusche, von Blattwerk, Getier, Wasserrauschen und Vogelstimmen.
Halb versteckt und ganz fälschlicherweise traulich anmutend schmiegt sich das Urwalddorf in die Senke am Hang drüben reicht. Vom Felsenkloster geht der Blick ungehindert über die Seen und Reisfelder, die von Urwald bedeckten Inselberge hin bis an den Horizont. Plan das Land wie eine Tafel. Nach fünf, sechs Autostunden erreichen wir die Berge.
Die Bahndämme werden auch hier von Fußgängern als Wege benutzt. Der durchs Dorf fahrende Bäcker kündigt sich mit Musik an: „Für Elise“– seltsamerweise. Eine ganz andere Art von Musik dringt aus dem Tempel herüber. Nacht. Es schüttet. Der Donner kollert. Ich stehe unter den Arkaden des Queen’s Hotel in Kandy und beschließe, an der Bar einen Drink zu nehmen.
„As sure as the sun will shine / I‘m gonna get my share, what’s mine“, singt Jimmy Cliff, irgendwo in einem Backpacker-Lokal dröhnt es aus der Box.
Sri Lanka hat etwa das Flächenmaß von Österreich, bei einer etwa doppelt so zahlreichen Bevölkerung. Die politische Lage, nach dem langen Bürgerkrieg zwischen Tamilen und Singhalesen oberflächlich befriedet, ist instabil. Gerade jetzt, nach einem dümmlich eingefädelten Putsch ist der Par drei Religionen, zwei Sprachen, zwei Schriftsysteme und oben drüber das nach dem Abzug der Kolonialmacht England verständlicherweise geächtete, jetzt aber aus schierer Notwendigkeit wieder geübte Englisch. Am Busterminal in der nahe gelegenen Kleinstadt kommt es zur wohl verfrühten Siegesfeier einer radikalisierten Anhängerschar, mit Fahnen, Feuerwerk und Geschrei. Betreten gehe ich zur Seite. In Österreich waren auch einmal Putsch und Bürgerkrieg. Sri Lanka, das heißt: Strahlendes Land.
An der Hauptstraße entlang entwickelt sich das Dorf, die Kleinstadt mit Hunderten von Läden, aus denen die Waren zur Geschäftszeit gleichsam auf die Straße herausdrängen. Was es nicht alles zu verkaufen, zu kaufen gibt! Dazwischen Apotheken, Arztpraxen, Hartwarengeschäfte, Friseure, Baubedarf et cetera. Die Sonne! Der Smog! Ist das überkommene Geschäft ein ebenerdiger, enger Schluff, ragen gleich daneben modernistische Einkaufszentren auf, Baulichkeiten in jedem Stadium der Fertigstellung. Gedränge, Sonnenschirme, tosender Verkehr, Schattenstreifen. Der unvermeidliche, gewissermaßen saubere Schmutz, der aufkommt, wenn du nah an der Erde lebst, vermischt sich hier mit den Abfällen, dem Dreck der Zivilisation.
Die Wirtschaft wächst schwach, die Lebensmittelpreise sind im Steigen, eine Herausforderung für die Armen, der Schuldendienst des Landes ist enorm, die politische Abhängigkeit von Geberländern wie China oder Indien hoch, die Insel geopolitisch exponiert: Wie sollte da das Schicksal des Landes nicht ungewiss sein, freilich weit ungewisser noch, als es etwa das Schicksal Österreichs ist?
Morgens schlafen herrenlose Hunde mitten auf der Straße, weil der Asphalt warm ist. Wilde Elefanten trampeln zwei Kinder in einem Dorf tot, irgendwo im Süden, ich lese es in der Zeitung. Am Berghang steigt Nebel auf, wo früher Palmen und Farne waren, ist jetzt leeres, körperloses Weiß.
Über das Internet dringen stetig Nachrichten aus Europa, aus den USA herein: bedenkliche Nachrichten. Man kann nicht mehr wirklich wegfahren. Das war allerdings schon zu Zeiten von Gauguin so, wie man seinen trübseligen Briefen an seine Freunde entnehmen kann. Wie hat es Robert Louis Stevenson so trefflich formuliert: „Sightseeing is the art of disappointment“– die Kunst der Enttäuschung.
So würde ich es nicht formulieren. Es bleiben Momente des Entzückens, der Einsicht auch, einer Umkehr zu sich selbst, der nichts Feierliches anhaftet. Sie hat wenig zu tun mit dem Weltkulturerbe, den Kunstschätzen und Heiligtümern, sehenswert allemal, die es zu besichtigen gibt. Es sind Momente der Wahrheit: So also ist es um unser Hier-Sein und So-Sein bestellt! Vor solcher Belehrung kannst du die Augen nicht verschließen Das heißt natürlich