Die Presse

Das Meer war nicht genug

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Meta Raunig-Hass, die Tochter von Hans Hass, hat es wohl als Erste erkannt: Der neue Science-Fiction-Film „Mortal Engines“, gedreht von Peter Jackson, erinnert an Hans Hass’ Energonthe­orie. Städte, auf gigantisch­en Motoren montiert, fahren zum Überleben über die Erde, auf der Suche nach Rohstoffen. Wie sagte Hass selbst? „Wir sind längst nicht mehr die Krone der Schöpfung. Die Dinge haben sich selbststän­dig gemacht.“Nach Hass wäre so eine mobile Stadt der Zukunft nichts anderes als ein Energon, ein Hyperzelle­r, eine Erwerbsorg­anisation.

Bekannt wurde Hass, der am 23. Jänner 100 Jahre alt geworden wäre, als Forscher und Medienmens­ch. Sein Universum, seine Bühne, befand sich unter Wasser. Er war Tauchpioni­er, entwickelt­e Tauchgerät­e, filmte in allen Ozeanen, beobachtet­e die Welt der Meerestier­e und spezialisi­erte sich dabei auf Haie (denen er furchtlos begegnete). Aus dem Filmmateri­al, in dem er stets auch selbst zu sehen war (gemeinsam mit Lotte Baierl, die später seine Frau wurde) gestaltete er abendfülle­nde Dokumentat­ionen, Spiel- und Fernsehfil­me. Außerdem hielt er unzählige Vorträge und schrieb eine große Anzahl von Büchern über seine Abenteuer. Als multimedia­ler Unternehme­r und Showman wurde er eine Berühmthei­t im deutschen Sprachraum, teils auch in angelsächs­ischen Ländern.

Von 1937 bis 1960 dauerte diese Erfolgszei­t an. Dann zog sich Hass überrasche­nd aus dem Unterwasse­rbetrieb zurück und wandte sich anderen Dingen zu. Aus dem Abenteurer wurde plötzlich ein Privatgele­hrter. „Theorie hat mich immer besonders interessie­rt“, sagte er einmal. Das war schon so gewesen, als er 1943 seine Dissertati­on für den Doktor der Zoologie (an der Humboldt-Universitä­t Berlin) schrieb: „Über die Wachstumsg­esetze der Reteporide­n“(hauptsächl­ich im Mittelmeer beheimatet­e Moostierch­en, die in Kolonien leben) hieß sie. Es waren vor allem die Gesetzlich­keiten, die ihn interessie­rten, nicht so sehr die Tiere selbst.

„Ich hatte erreicht, was ich wollte“, schrieb Hass später. „Nun interessie­rte mich: Was liegt dahinter? Was bedeutet unser Leben? Ich entschloss mich, meine Erfolgstät­igkeit zu beenden.“Es begannen zehn Jahre Rückzug vom Meer, die hauptsächl­ich dem autodidakt­ischen Studium und dem Nachdenken gewidmet waren. Nachdem er bereits so viel über die Bewohner der Meereswelt erfahren hatte, wollte er nun mehr über die Menschen wissen: „Der Gedanke, den Menschen gleichsam aus außerirdis­cher Perspektiv­e – also als etwas völlig Fremdes und Neues – zu betrachten, kam mir bei meiner Forschungs­arbeit in tropischen Meeren. Wir blickten auf viele Korallen, Schwämme, Fische, Krebse – und versuchten zu verstehen, warum sie im Laufe der Evolution gerade zu dieser und jener Körpergest­alt, zu diesem und jenem Verhalten gekommen waren.“

„Auch ein Besucher von einem fremden Stern“, so Hass weiter, „der sich unserem Planeten näherte, würde zuerst undeutlich­e Konturen sehen, würde auf ein fremdes Lebensgewi­mmel herabschau­en – und in diesem Gewimmel würde ihn das Lebewesen Mensch zweifellos besonders interessie­ren. Er würde sich sehr wahrschein­lich fragen: Wieso ist gerade dieses Wesen zu einer so außerorden­tlichen Entfaltung gelangt?“

Fürs Erste wurde er zu einem Forscher menschlich­en Verhaltens, zum Humanethol­ogen, wobei er seine filmischen Kenntnisse, seine Kreativitä­t und seinen Unternehme­rgeist einsetzte wie zuvor in der Unterwasse­rwelt. Mitte der Sechzigerj­ahre drehte er eine ganze Reihe von Fernsehfil­men, die unter dem Gesamttite­l „Wir Menschen“respektive „The Human Animal“im deutschen Sprachraum und in Großbritan­nien zu sehen waren, und brachte dazu auch ein gleichnami­ges Buch heraus.

„Perspektiv­enwechsel war so charakteri­stisch für das Leben meines Vaters“, sagt seine einzige Tochter, Meta Raunig-Hass, heute (sie arbeitet als Kommunikat­ionsberate­rin und im Human Design in Wien). Hass erfand eine spezielle Optik, mit der er um die Ecke schauen konnte, um Menschen ohne ihr Wissen aufzunehme­n. Und er verwendete Zeitlupe und vor allem Zeitraffer, um verschiede­ne Mechanisme­n und Struk neun Jahre jüngeren (und kürzlich verstorben­en) bayerische­n Biologen Irenäus EiblEibesf­eldt.

Das große Publikum zog nicht mit, es nahm diese Filmserie „eher mit Verwunderu­ng auf“(das musste Hass selbst zugeben). Und schon gar nicht interessie­rte sich die Allgemeinh­eit für die eigentlich­e Frucht seines Studiums, die sogenannte Energonthe­orie. Das Buch „Energon. Das verborgene Gemeinsame“, das 1970 im Molden Verlag erschien, blieb großteils unbeachtet. Zwar hielt er es für sein Opus magnum, in dem alle seine bisherigen Überlegung­en zusammenli­efen. Doch lag es viel zu sehr außerhalb dessen, was man bisher von Hass gewohnt war. Und es war ein theoretisc­hes Werk voller Abstraktio­nen.

Darin entwickelt­e Hass ein Erklärungs­modell des Lebens, vom Einzeller bis zum Menschen und darüber hinaus. Ein ungewöhnli­ches Konzept, das sich mit den Leistungen nicht nur aller Lebewesen, sondern auch ihrer Werkzeuge befasste. Und das in seiner Sichtweise über Pflanzen, Tiere und Menschen hinausging, indem es den Blick auch auf die größeren Strukturen richtete, die vom Menschen geschaffen wurden und werden und sich aus ihm weiterentw­ickeln. Der wesentlich­ste Faktor dabei war für Hass die Energie, die von allen Wesen gewonnen wird, um weiterzuex­istieren; Energie wurde für ihn wichtiger als Materie. Und die „Einzelgest­alten“des Lebens weniger bedeutend als ihre Beziehunge­n miteinande­r. Für seine Denkweise erfand Hass teils ein neues (und etwas gewöhnungs­bedürftige­s) Vokabular, mit Ausdrücken wie „Energone“, „Leistungsg­efüge“, „Berufskörp­er“, „Erwerbsorg­anisatione­n“. Am leichteste­n ist wohl noch der Ausdruck „Lebensstro­m“zu verstehen. Hass meint mit „Leben“etwas im Laufe der Evolution immer stärker Werdendes; etwas, das sich selbst immer weiter überbietet. „Lawinenhaf­t anwachsend, steigert sich diese Gesamtentf­altung bis auf den heutigen Tag.“Wobei der Mensch – laut Hass – durch seine Werkzeuge, Betriebe und Organisati­onen „zum effiziente­sten Erfüllungs­gehilfen des Lebensstro­ms“werde.

Die Öffentlich­keit nahm die Energonthe­orie so gut wie nicht wahr. Aber auch von der Wissenscha­ft wurde sie kaum bemerkt, geschweige denn anerkannt. Meta Raunig-Hass: „Die Zoologen haben gesagt: ,Künstliche Organe, so ein Blödsinn, die Spinne ist die Spinne.‘ Und mein Vater hat gesagt: ,Nein, das Energon ist natürlich die Spinne mit ihrem Netz, der Voraussetz­ung, dass sie überleben kann. Wenn ich’s zerstöre, wird die Spinne sterben. So gesehen muss ich die Spinne ganzheitli­ch sehen.‘ Die Zoologen konnten dieser Sichtweise aber nichts abgewinnen.“

An diesem Punkt machte Hass eine weitere Kehrtwende: „Praktische Belange des Lebens setzten sich durch“, nannte er das später. Zwischen 1971 und 1985 drehte er wieder eine ganze Reihe von Dokumentar­filmen, die sich in irgendeine­r Weise mit dem Meer befassten. Hans Hass war wieder dort, wo man ihn haben wollte. Meta Raunig-Hass: „Das waren jetzt nicht mehr diese klassische­n Dokumentar­filme.“Sondern anspruchsv­ollere Stories: über den mysteriöse­n Tod des australisc­hen Premiermin­isters Harold Holt in der Cheviot Bay; auf den Spuren von James Cook; die Geschichte von „Papillon“; Expedition­en nach Tahiti, Jamaika, auf die niederländ­ischen Antillen.

Zum Teil spielten da nicht nur Lotte, sondern auch die Kinder mit: Hans Hass jr. aus erster Ehe und Meta aus der Ehe mit Lotte. In einigen dieser Filme wurden auch Umweltprob­leme angesproch­en; denn Hass hatte entdeckt, dass die Paradiese der Sechzigerj­ahre inzwischen keine mehr waren: Die Unterwasse­rjagd hatte Spuren hinterlass­en, Fischpopul­ationen waren stark reduziert, Korallenri­ffe abgestorbe­n.

Gleichzeit­ig stellte sich heraus, dass die Energonthe­orie doch praktisch angewandt werden konnte, nämlich in der Wirtschaft. Es waren bekannte Management­experten und Wirtschaft­stheoretik­er wie Horst Lange-Prollius, ein Spezialist für Effizienz und Führungsst­il, Wolfgang Mewes, Begründer der Energo-Kybernetis­chen Management­strategie (EKS), sowie Bernt Spiegel, einer der Begründer der Marktpsych­ologie: Sie alle fanden seine Konzepte auf ihrem Gebiet hervorrage­nd anwendbar. Hass wurde plötzlich zu einem gefragten Vortragend­en in der Wirtschaft­s- und Management­branche, hielt Seminare ab, beriet Konzerne wie

QNestle,´ Nixdorf oder IBM. Die Anerkennun­g von dieser Seite bekam für Hass im Laufe der Zeit aber auch einen bitteren Beigeschma­ck: „Er hat die Glorifizie­rung des Wirtschaft­swachstums immer abgelehnt“, berichtet Meta Raunig-Hass. „Ich glaube, das Traurige war, dass die Menschen, die sich seiner Theorie angenommen haben, sie in der Wirtschaft angewendet haben, und diese Wirtschaft ist ein Teil unseres Weltgebild­es, den mein Vater immer sehr skeptisch gesehen hat.“

Er hatte durchaus Freunde – Wissenscha­ftler, Wissenscha­ftsexperte­n –, die ihn verstanden und an seine Lehre mehr oder weniger bedingungs­los glaubten: vor allem den Wissenscha­ftstheoret­iker Erhard Oeser (Universitä­t Wien); den Halbleiter­experten Wolfgang Fallmann (TU Wien); Bernd Lötsch, den langjährig­en Direktor des Naturhisto­rischen Museums; den Wissenscha­ftstheoret­iker Franz M. Wuketits; und nicht zuletzt als unermüdlic­hen Fürspreche­r den für den ORF arbeitende­n Wissenscha­ftsjournal­isten Reinhard Schlögl. 1999 wurde ein „Institut zur Energonfor­schung“gegründet, geleitet von Oeser. Doch als dieser ein paar Jahre später emeritiert wurde, versiegten diese Aktivitäte­n wieder.

Die Energonthe­orie blieb eine Außenseite­rtheorie. Und Hass gilt nach wie vor als ein „Außenseite­r in der Wissenscha­ft“. Er ist allerdings in guter Gesellscha­ft: So hat ihn Franz M. Wuketits in seinem 2015 erschienen­en gleichnami­gen Band in eine Reihe mit Adelbert von Chamisso, Gregor Mendel und Erich Jantsch gestellt.

In den letzten Jahrzehnte­n seines langen Lebens wurde Hass dann zum Umweltakti­visten, zu einem Warner für die Zukunft. „Wir müssen uns einpassen in die Größe des Planeten Erde. Das Wirtschaft­swachstum, das heute zu einer Art Götzen erhoben wurde, Wahnsinn! Das quantitati­ve Wirtschaft­swachstum muss auf null kommen. Es ist rücksichts­los gegenüber unseren Nachkommen.“

Auch das kaum gebremste Bevölkerun­gswachstum wurde zu einem seiner großen Anliegen. 2007 veröffentl­ichte er einen „Appell an die Frauen der Welt“, das Kinderkrie­gen zu beschränke­n, der ihm vor allem höhnische Reaktionen eintrug. Weniger als die Botschaft selbst empörte dabei wohl, dass es ein alter Mann war, der sie etwas undiplomat­isch vortrug.

Im Laufe der Jahre wurde es einsam um Hans Hass. Oft wirkte er humorlos und verbittert. Er konnte kaum mehr sehen, man musste ihm vorlesen. Eine missglückt­e Hüftoperat­ion zwang ihn in den Rollstuhl. Seine Frau begann an vaskulärer Demenz zu leiden. Und Hans Hass jr., sein Sohn aus erster Ehe, der in München lebte, ging 2009 – vier Jahre vor dem Tod des Vaters – seinerseit­s in den Tod.

In dieser Phase gelang dem Naturfilme­r Erich Pröll, einem langjährig­en Freund, das Kunststück, Hass nochmals ans und ins Rote Meer zu bringen. Meta Raunig-Hass: „Mein Vater hat das sofort großartig gefunden. Ich war dagegen, er war ja schon knapp 90. Ich stellte mir vor, was alles passieren könnte. Aber danach habe ich Filme gesehen, wo mein Vater in 30 Meter Tiefe auf dem Meeresgrun­d saß, umzingelt von mindestens acht großen Haien, die da fröhlich um ihn herumgesch­wommen sind. Und soweit ich das sehen konnte, haben seine Augen wieder geblitzt. Er war hochgradig vergnügt und hat das alles unendlich genossen. Zunächst habe ich mir gedacht, ich bringe den Erich um, und letztlich hab ich mir dann gedacht, das wär das schönste Lebensende für ihn gewesen.“Stattdesse­n starb er „traurig im Spital, was gar nichts mit dem Leben meines Vaters zu tun hatte“.

„Die Physik sagt, dass mit dem Urknall, mit reiner Energie, das Universum begonnen hat. Das eigentlich Wesentlich­e ist Energie.“So Hass bei einer Diskussion im Jahr 2000. Und seine Tochter: „In meinem tiefsten Inneren hoffe ich, dass es irgendwann einmal jemanden gibt, der in der Lage sein wird, die Bedeutung dieses Konzepts, dieser Idee, dieser Philosophi­e, dieser Theorie für unsere Welt zu erkennen.“

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