„Ich verkaufe nicht an Zigeuner“
Für die Familie Dorn in Trier hätte 1936 ein gutes Jahr werden sollen. Mit Karussell, Buden, Ponys sind die Schausteller so erfolgreich in der Region unterwegs, dass sie es schon fast zu bürgerlichem Wohlstand gebracht haben. Eben sind Alfons und Lucie mit ihrer stetig wachsenden Kinderschar in ein schmuckes Häuschen gezogen, in dessen Garten die Fliederbüsche blühen. Die kleinen Leute von Trier und den Gemeinden der Umgebung sind dankbar, dass es diese Familie von Sinti gibt, die mit ihren prächtigen, lauten, rasselnden Wunderwerken von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zieht. Denn für ein paar Stunden möchten sie genießen, was das Leben außer Arbeit und Sorgen noch für sie bieten könnte – Zauber und Glück.
Ein umsichtiger Mann, der stets darüber grübelt, wie er sein Unternehmen modernisieren könnte, fährt Alfons erwartungsfroh zum ersten Mal nach Berlin, hat er doch erfahren, dass auf der Messe eine sensationelle Novität, der Autoscooter, präsentiert wird. Doch die Händler der Hauptstadt wollen mit ihm keine Geschäfte machen: „Ich verkaufe nicht an Zigeuner!“Der „Runderlass betreffend die Bekämpfung der Zigeunerplage“hat den Weg vorgegeben, der über lauter kleine Schikanen und bürokratische Zwangsmaßnahmen binnen weniger Monate Hunderttausende Menschen in die völlige Entrechtung führen wird. Keine andere Gruppe der Roma hatte sich so sehr mit dem Staat, in dem sie lebte, identifiziert wie die deutschen Sinti, keine war in der gesellschaftlichen Integration weiter gelangt als sie.
Doch jetzt geht es Schlag auf Schlag. In Berlin wird bald die Olympiade eröffnet werden, und bis dahin haben die Sinti aus der Öffentlichkeit zu verschwinden, wie Müll werden sie weggekehrt und in das Lager Marzahn verfrachtet. Wer sich gegen das Unrecht wehrt, das ihm angetan wird, setzt sich vor jenen, die ihn verfolgen, ins Unrecht. Die sich nicht widerstandslos ins Lager sperren lassen, gelten den Polizisten und wohlanständigen Bürgern gerade wegen ihres Widerstands für „kriminell oder asozial oder beides, jedenfalls für Leute, vor denen man die Öffentlichkeit schützen musste“. Je häufiger, muss ich hier einfügen, je häufiger die Roma in Ungarn, Tschechien, der Slowakei Opfer politischer Gewalttaten werden, umso düsterer wird das Bild, das die Medien auftragsgemäß von ihnen zeichnen. Denn man muss Menschen zuerst verächtlich machen, sie zu kriminellen Feinden des Volkes erklären, erst dann kann man sie guten Gewissens drangsalieren.
Alfons kann flüchten, schlägt sich nach Trier durch, versucht weiterzumachen wie bisher. Aber der Untergang seiner Familie ist anderswo längst beschlossen worden. Dem Schausteller wird das Karussell weggenommen und die Arbeit verboten; danach heißt es, dass er und die Seinen „unnütze Esser“wären, die „auf unsere Kosten leben“. Es ist also nichts Neues, Menschen die Arbeit zu verbieten, um ihnen dann vorzuwerfen, dass sie der Gemeinschaft zur Last fallen.
Das Schicksal der Sinti-Familie Dorn breitet Ursula Krechel in ihrem neuen Roman „Geisterbahn“mit zahllosen bewegenden, erschütternden, empörenden Details aus. 1947 in Trier geboren, veröffentlichte die Autorin seit den Siebzigerjahren Gedichte, Hörspiele, Essays; aber erst mit zwei Romanen, die sie in ihrem siebten Lebensjahrzehnt verfasste, hat sie nicht nur die Literaturkritik begeistert, sondern auch ein großes Lesepublikum gefunden. deren Leben mehr oder weniger viel mit dem Schicksal dieser deutschen Sinti zu tun hat. Krechel ist eine Erzählerin von generöser Freigebigkeit. Etliche ihrer Gestalten, von denen eine jede mit einer besonderen Biografie ausgestattet wird, sind so interessante Charaktere, dass sie durchaus zu Hauptfiguren eigener Romane taugen würden. Doch die Autorin berechnet ihr Schreiben nicht ökonomisch, sondern baut einen einzigen großen Roman, in dem drei, vier andere stecken.
„Geisterbahn“hat Passagen, die herzergreifend sind, und andere, die man nur mit kalter Wut lesen kann, so entlarvend werden bürokratische Protokolle der Niedertracht zitiert. Auf eindringliche Schilderungen des Alltags in der Provinz folgen essayistische Abschnitte, in denen wir über den Weinbau in der Moselgegend, die Reste der römischen Architektur in Deutschland, die kommunistische Bewegung in Trier oder über Kameraeinstellungen im Experimentalfilm unterrichtet werden. Das Buch, das inhaltlich mit seinem Reichtum an Welt überwältigt, treibt stilistisch einen gewaltigen Sprachstrom voran, der bald langsam dahinfließt und sich dann enorm beschleunigt. Oft sind es sprachliche Assoziationen, die das Erzählen von einem Satz zum nächsten springen lassen, aber Krechel verliert darüber nicht die Dinge aus den Augen, von denen sie berichten will. Der Sprachrausch feiert nicht sich selbst, sondern ist eine Methode, im Staub der Akten das Schicksal von Menschen sichtbar zu machen.
So obliegt es im Krieg einem Dr. Neumeister, die Zwangsarbeit im Bezirk Trier zu organisieren, einem jungen Mann, der seit jeher von der Effizienz, der strengsten und praktischsten Ordnung der Dinge besessen ist: „Die Fabriken, die Bauernhöfe, die Weingüter an der Mosel schreien nach Zwangsarbeitern, es war so einfach zu schreien. Zuerst das Brüllen auf den Straßen, dann das Brüllen auf den Exerzierplätzen, in den Schulen wurde schon lange gebrüllt, nie hatte das Brüllen ein Ende. Und nun der hungrige, gierige Schrei nach Nachschub. Ein Arbeiter wurde Soldat, ein Zwangsarbeiter musste her.“
Dr. Neumeister, der schreckliche Jurist, der seine Karriere nach 1945 bruchlos fortsetzt, zählt zu jenen Figuren, denen sich der Roman im zweiten und dritten Kapitel zuwendet. Da sind die Söhne und Töchter der Familie Torgau, allesamt Kommunisten, die bis auf Aurelia, die feinsinnige Tochter, nie an ihren politischen Überzeugungen irre werden; von den Nazis ins Zuchthaus gesteckt, in Konzentrationslager deportiert, werden sie in der Bundesrepublik des wachsenden Wohlstands immer mit Misstrauen betrachtet werden. Da ist die stolze Grit, deren Verlobter im Krieg blieb und die später für die französischen Besatzungsbehörden arbeitete. Im assoziativ dahinrauschenden, zu kühnen Metaphern neigenden Stil des Romans wird von ihrer Schönheit ihrer ex selbeine sehen, sie sind wie Querflöten, man könnte ihnen Töne entlocken, die gespitzten Lippen auf einem der dürren Knochen. Und der Mann, der sich vorstellt, auf einem ihrer Schlüsselbeine Flöte zu spielen, perlende Töne, schaut sie an mit offenem Mund, ja, vielleicht ein wenig blöde, wie jedes Begehren in eine frühere Kulturstufe reicht.“
Zwei, drei Dutzend solcher einprägsam gezeichneter Charaktere stellt uns Krechel vor, indem sie zugleich mit deren besonderen Leben auch von der allgemeinen Geschichte Deutschlands erzählt. Besonders spannend wird der Roman in der Ära des Übergangs, da die alte Ordnung zusammenbricht, die neue sich noch nicht etabliert hat, aber bereits kein Nazi mehr ein solcher gewesen sein möchte.
Dem vierten und längsten Kapitel, das nun ein veritabler Roman für sich ist, hat Krechel eine kompositorisch bestechende Idee zugrunde gelegt. Bis dahin hat sie die Erzählfäden nur lose ausgelegt, jetzt aber werden sie miteinander verknüpft, und zwar in einer Volksschulklasse: In ihr sitzen nämlich die Kinder der Opfer Widerstands Und in diesem Klassenzimmer um die Mitte der Fünfzigerjahre leuchtet für einen kurzen historischen Moment utopisch die Möglichkeit auf, dass die Welt nach dem Desaster doch eine bessere werden könnte. Denn die Kinder, deren Eltern so Verschiedenes erlitten oder taten, sie halten zusammen, sind einander echte Freunde. Später geraten sie sich aus den Augen, geht ein jedes seine eigenen Wege in die Welt hinaus, ein echter Lump wird aber keines von ihnen.
Auch Annchen, das jüngste der zehn Kinder der Familie Dorn, gehört zu dieser Schulklasse, in der sie von ihren Kameraden anerkannt und geachtet und manches Mal auch getröstet wird. Sie kam erst zur Welt, als ihre Eltern aus Auschwitz zurückgekehrt waren, wo fünf der Kinder ermordet worden waren. Wie es der Familie Dorn erging, das schildert Krechel so aufwühlend, dass den Lesern einiges zugemutet wird. Schauerlich ist beschrieben, wie Kathi, die älteste Tochter, noch vor dem Krieg zu einem Gynäkologen beordert wird, der das ahnungslose Kind brutal untersucht und dann zur Zwangssterilisierung ins Krankenhaus überweist. Kathi überlebt das KZ, aber sie wird in der BRD nie zu ihrem Recht kommen.