Die Presse

„Gegenwarts­bezogen“leben

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Am 21 Jänner stellt Ursula Krechel ihren

QKrechel zitiert eines von vielen Gutachten, mit denen deutsche Amtsärzte bis in die Sechzigerj­ahre sterilisie­rten Sintezza das Leiden absprachen und sie von Entschädig­ung ausschloss­en: „Da Persönlich­keiten von der Wesensart der Antragstel­lerin gegenwarts­bezogen leben, . . . stellt sich für sie die Tatsache einer erzwungene­n Kinderlosi­gkeit weniger als seelische Dauerbelas­tung dar als für normal empfindend­e Frauen in gleicher Situation.“

Von wem wird der Roman eigentlich erzählt? Keine leichte Frage! „Geisterbah­n“ist schon über die Hälfte hinaus, bis wir merken, dass es einer der Schüler jener Schulklass­e ist, der hier spricht, die Dinge ordnet und bewertet, ehe er gegen Schluss selbst zum Protagonis­ten des Geschehens wird. Das Kind von damals ist ein mittlerwei­le pensionier­ter Lehrer, der sein Leben lang mit der überlebens­großen Figur des Vaters gerungen hat, eines Polizisten, der es für seine Pflicht hielt, jedweden verbrecher­ischen Befehl auszuführe­n. Sein Sohn, ein wackerer Altachtund­sechziger, könnte als Erzähler aber weder die geheimsten Gemütsregu­ngen von Menschen kennen, die bereits alt waren, als er selbst ein Volksschül­er war; noch ist ihm der poetische Sprachraus­ch, in dem es über 600 Seiten dahingeht, psychologi­sch zuzutrauen. Neben seiner Stimme ist also eine zweite zu vernehmen, die keiner Person zugeordnet werden kann, aber auf sprachküns­tlerisch höchst originelle Weise spricht. Diese Erzählinst­anz macht den Roman, der durch die Geisterbah­n der deutschen Geschichte braust, zum Ereignis.

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