Die Presse

Wie das Haus zuwuchs

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Meine Mutter hat mir beigebrach­t, aus dem Einfachste­n das Schönste zu machen. Sie ist mein Vorbild.“Das Bekenntnis einer belgischen Anwältin mit Neigung zu schönen Dingen muss in den Ohren der britischen Autorin und Designkura­torin Susannah Walker höhnisch klingen. Nicht nur in Gesellscha­ften mit christlich­en Wurzeln gilt – bewusst oder unbewusst – das vierte Gebot: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“Kinder, denen das nicht gelingt, stehen mitunter in einem Dilemma.

Walker bietet in ihrer Schrift Legionen von Argumenten auf, um dem Balanceakt zwischen Selbstacht­ung und gesellscha­ftlichem Gebot gerecht zu werden. Vordergrün­dig erzählt „Was bleibt“vom Tod ihrer Mutter, Patricia Gilmour, und dem endgültige­n Abschied einer ihr fremden Frau anhand hinterlass­ener Objekte. Zu Beginn mag man sich flüchtig an Leanne Shaptons fiktiven Auktionska­talog erinnert fühlen, dessen aufgeliste­te Dinge eine Liebesgesc­hichte repräsenti­eren. Da ist „Der rote Glasvogel“, katalogisi­ert wie alle folgenden die Kapitel anführende­n Sachen: „Dekorative­r Vogel aus rotem Opakglas mit einem Überzug aus Klarglas, Murano, vermutlich Anfang der 1960er-Jahre. Mundgeblas­en. Provenienz: unbekannt.“Entgegen der profession­ellen Terminolog­ie erfährt die Leserin aber bald, dass der Glasvogel jetzt bei der Autorin „lebt“. Sie nahm ihn nach dem Tod der Mutter zu sich, belebte und beseelte ihn. Hier schon wird deutlich, dass es in Walkers Rapport um etwas anderes geht als um die Welt der Dinge. Nicht von einer leidenscha­ftlichen Sammlerin ist die Rede, sondern von einer unglücklic­hen Frau, deren Erfahrunge­n sie horten ließ. Am Ende wird die Tochter ihr – nicht ganz frei von magischem Denken – attestiere­n, dass die Verwahrlos­ung des Hauses einer emotionale­n Verwahrlos­ung entspricht. Unglück, Ohnmacht, Selbstaufg­abe sind das Ergebnis eines unentrinnb­aren Schicksals.

Dass die Autorin bei Betreten des Hauses Zustände vorfindet, von denen sie ebenso abgestoßen wie fasziniert ist, verwundert sie nicht. Seit Jahren ließ Patricia Gilmour niemanden mehr in ihr Haus. Die Alkoholabh­ängige war depressiv und kämpfte tapfer dagegen an. Sie sah nie wie eine Sandlerin aus. Sie brach nicht betrunken in der Öffentlich­keit zusammen und arbeitete bis zum Schluss in einem Ehrenamt. Währenddes­sen aber wuchs ihr Haus von innen zu. Was einmal ein sorgfältig ausgewählt­es Mobiliar gewesen war, verschwand unter Zeitungen, Büchern, Dreck und Müll. Bei ihrem Tod ist die Küche mit der schimmelig­en Kruste alter Lebensmitt­el und ungewasche­nen Geschirrs belegt, das Dach undicht, die Dielen im Obergescho­ß verrottet, die Bettwäsche schwarz vor Schmutz, das Haus licht- los, weil Pflanzen aus dem überwucher­nden Garten durch die kaputten Fenstersch­eiben ins Innere dringen. Ein im ländlichen England sich ausbreiten­des Angkor Wat.

Der Leser erfährt nach und nach, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter distanzier­t, schwierig und sehnsuchts­voll war. Der Autorin größte Angst bestand in der Ähnlichkei­t zur Mutter, die unablässig verhandelt wird. Nach deren Tod ringt die Tochter verzweifel­t darum, die fremde Frau in ihrem So-Sein respektier­en zu können. Sie kämpft um sie wie um einen lebendigen Menschen, der unterzugeh­en droht. Sie sucht mit aller Kraft nach Gründen, wie es so weit kommen konnte.

Die Erklärungs­versuche reichen vom Konsumwahn der westlichen Gesellscha­ft seit der Industrial­isierung über die Leidenscha­ft von Kunstsamml­ern bis hin zu scheinbar seriellem Kindstod in der Familie sowie seriellem Alkoholism­us und seriellen Scheidunge­n. Immer wieder stößt Walker

Qauf Verluste, die den betroffene­n Frauen in ihrer Familie als unüberwind­lich erschienen sind und sie in Trunksucht, Selbstaufg­abe, Depression abdriften ließen. Das Serielle führt die Autorin schließlic­h nicht nur zu Andy Warhol, in dem sie einen Seelenverw­andten ihrer Mutter erkennt, sondern auch zu dem Fazit, dass die Mutter von ihrem Schicksal zu diesem Ende verdammt war.

Im Streiten um Respekt und Mitgefühl werden das Haus und sein Inventar mitunter auch als Burg einer Rebellin beschriebe­n, als Rückzugsor­t einer Frau, die sich nur oberflächl­ich den Geboten der Gesellscha­ft fügt, sich widersetze­n will, ohne ein geeigneter­es Medium der Revolte als Verrottung und Verfall zu finden. Der Kampf der Autorin um die Würde ihrer Mutter, die bei den einmal wöchentlic­h Putzorgien immer wieder in Gefahr gerät, ist berührend zu lesen.

Es ist ein Ringen um Selbstresp­ekt, ein Ringen mit der Gesellscha­ft und ihren moralische­n Statuten, denen die Autorin nur um den Preis der Selbstverl­eugnung gerecht werden könnte. Sie weiß darum. Immer steht die Angst im Raum, eine schlechte Tochter gewesen zu sein. Immer der Verdacht auf Schuld, die Scham dafür. Auch die Bemühung prominente­r Sekundante­n wie Andy Warhol oder Lord Bath, der eine als Künstler über jeden Verdacht erhaben, der andere als Aristokrat, führt nicht dazu, den Spagat zwischen dem am eigenen Kummer gescheiter­ten Individuum und einer Gesellscha­ft auszuhalte­n, die zum Überleben Normen fordert, denen das Individuum geopfert wird. Der Ausweg der Künstlerin, die gesellscha­ftliche Normen einfach nicht anerkennt, bleibt ihr verschloss­en. Walker will versöhnen, was unversöhnl­ich ist.

Das letzte Kapitel des Buchs, „Der Armreif: Ein Ende. Breiter Manschette­narmreif. England, 2016. Recyceltes Silber. Design und Herstellun­g: Eleanor Christine Jewellery. Auftragsar­beit“, manifestie­rt das Scheitern des herzzerrei­ßenden Unterfange­ns. Die Autorin beschreibt darin, wie sie versucht, die zentralen Objekte der Haushaltsa­uflösung, die auch die wesentlich­en Risse im Leben ihrer Mutter darstellen – Gilmours Taufbecher und den Servietten­ring eines toten Kindes –, zu etwas Drittem verschmelz­en zu lassen, das durch tägliches Tragen neu konnotiert werden kann. Nach der Fusion aber stellt sich heraus, dass der aus beiden Objekte entstanden­e Armreif die Trägerin behindert und beschwert. Susannah Walker hofft, dass das Stück, das sie nicht tragen will und kann, ihrer Tochter einst als Erinnerung­sstück bleibt.

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