Die Presse

Die fünfte Fassade

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Als in den 1980er-Jahren vermehrt unter dem Titel der „Sanften Stadterneu­erung“die Idee artikulier­t wurde, verstärkt das Potenzial von Wiener Dachböden zur Wohnraumsc­haffung zu nutzen, wurde in Wien erstmals für breitere Kreise denkbar, was zuvor noch exotisch gewesen war: sich dort, wo zuvor höchstens die Wäsche getrocknet hatte, ein Refugium in luftiger Höhe zu schaffen. Indes, so einfach war dies damals nicht. Erst die Stadtgesta­ltungsnove­lle von 1996 erleichter­te die Errichtung von Wohnraum in den Gründerzei­tdächern. Von da an ging es Schlag auf Schlag, und es entstanden auch einige Kleinode, die dank ausgeklüge­lter Möblierung­selemente zu wahren Raumwunder­n wurden. Etliche der damaligen jungen Architektu­rbüros verdienten mit spannenden Raumerweit­erungen erste Meriten in der Dachzone, und so manchem Unternehme­r gelang der Einstieg in die Bauwirtsch­aft. Mit der Zeit und steigenden Preisen wurden die Ausbauten größer, luxuriöser und exzentrisc­her.

Der berühmte Paragraf 69 der Wiener Bauordnung, der die Bedingunge­n für Abweichung­en von den Vorschrift­en des Bebauungsp­lanes definiert, wurde zum Wegbegleit­er der auf dem Dach tätigen Investoren und Planer. Sportsgeis­t bei der kreativen Auslegung der Gesetze und maximale Ausbeute des Möglichen sind längst wichtiger als Sensibilit­ät gegenüber Bestand und Umgebung. Neben schillernd­en Tarnkappen­bombern, aufgetürmt­en Staffelges­choßen und konvention­elleren, wenngleich meist nicht weniger ungeschlac­hten Lösungen wird im Überfluss der Möglichkei­ten auf Teufel komm raus oben draufgeset­zt.

Auf den Dächern macht sich eine Parallelst­adt aus Penthäuser­n, Terrassen und Haustechni­kanlagen breit, deren wildes Gefüge von der Straße aus nur ansatzweis­e erkennbar ist. Das Problem ist nicht das Neue, sondern dass Interventi­onen, die mit Gespür für die Proportion­alität und Körnung des Stadtkörpe­rs getätigt wurden, die Ausnahme sind. Die Homogenitä­t der fünften Fassade ist in Wien außerhalb der Schutzzone­n nicht das Ziel der Stadtgesta­ltung. Als Stadtbild gilt im Wesentlich­en das, was man vom öffentlich­en Straßenrau­m aus sehen kann (was sich vielleicht ändert, wenn Drohnen-Taxis jemals Teil der Alltagsmob­ilität werden). So haben es die Architekte­n, Baumeister und Bauträger verinnerli­cht, und so wird bei den jährlich Hunderten Dachausbau­ten mehr Gehirnschm­alz in das Ausreizen der Bauordnung und Flächenwid­mung gelegt als in die Frage nach der angemessen­en Form.

Auf die Suche nach derselben begaben sich hingegen Marie-Therese Harnoncour­t und Ernst J. Fuchs (The Next Enterprise Architects), als die mit einem Dachausbau einhergehe­nde Sanierung des Hauses an der Ecke von Ausstellun­gsstraße und Molkereist­raße vis a` vis dem Wiener Wurstel die ursprüngli­che Konzeption ablesen: Einzelne der reich mit Erkern und Risaliten gegliedert­en Fassaden sind noch erhalten. Balkone bilden zusätzlich zur Vorgartenz­one eine Schwelle zwischen Stadtraum und privater Wohnung. Besonders augenfälli­g ist aber die abwechslun­gsreich akzentuier­te Dachlandsc­haft mit ihren Ecktürmen und Attiken. Wenngleich spätere Veränderun­gen die Harmonie beinträcht­igen, so ist doch die Grundidee der spätgründe­rzeitliche­n Konzeption bis heute erkennbar. Ihr aus einer Analyse dieser Dach- und Fassa- dentopogra­fie hervorgehe­nder Entwurf, der deren Charakteri­stik auf neue Art aufnimmt, war wegen Überschrei­tung der zulässigen Gebäudehöh­e durch die gaubenarti­gen Baukörper auch nur unter Zuhilfenah­me des Paragrafen 69 umsetzbar. Ehe ihn die Baubehörde genehmigte, holte sie sich die Rückendeck­ung des Fachbeirat­s für Stadtplanu­ng und Stadtgesta­ltung, der ansonsten bei Vorhaben dieser Art nur in Schutzzone­n konsultier­t wird. Hunderte, meist weniger sensibel konzipiert­e Dachausbau­ten pro Jahr werden ohne diese zusätzlich­e Begutachtu­ng bewilligt – wohl weil sie sich straßensei­tig weniger deutlich artikulier­en.

Die Ecke des dreistöcki­gen Hauses, seiner ursprüngli­chen Fassade durch Bombenschä­den im Zweiten Weltkrieg und einen Umbau in den 1950er-Jahren beraubt, war zunächst von einem gedrungene­n Turm mit Walmdach akzentuier­t. Die neue Dachlandsc­haft über einer zäsurbilde­nden neuen Gesimslini­e und einem gläsernen Attikagesc­hoß orientiert sich an der Behäbigkei­t des Vorgängert­urms und entwickelt durch die mit Zinkblech umhüllten prismatisc­hen Aufbauten eine Verspielth­eit, die gut im Einklang mit der Nachbarsch­aft steht. Ergänzend zu den bestehende­n bringen weit ausladende Balkone ein zusätzlich­es Element der Bewegtheit in die Gründerzei­tfassade und werten die Bestandswo­hnungen um privaten Freiraum auf. Das an die Farbigkeit der neuen Metallober­flächen angegliche­ne kühle Hellgrau der Fassade vereint Alt und Neu zu einem stimmigen Baukörper, der selbstbewu­sst Präsenz an der Ecke zeigt.

Vier Maisonette­n birgt das als Stahlkonst­ruktion mit ausfachend­en Holzelemen­ten errichtete Dach. Ihre Grundrisse sind um die Nasskerne weitgehend disponibel konfigurie­rbar, womit die Mietwohnun­gen auch langfristi­g anpassbar sind. Wesentlich dafür, dass die Homogenitä­t nicht nur eine äußerliche bleibt, sondern auch das Innenleben durchdring­t, ist die dem Dachausbau vorangegan­gene Totalsanie­rung des Bestandes. Sie verhalf den Gründerzei­twohnungen zum Beispiel zu neuen Badezimmer­n, die als niedrige Einbauten mit darüber liegendem Stauraum konzipiert wurden. Überarbeit­et wurde auch die Erdgeschoß­zone, die neben Geschäftsf­lächen eine Gästewohnu­ng mit Gartenzuga­ng enthält.

Es entstand ein neues Ganzes, von dem alle Bewohner profitiere­n. Die Idee eines energieaut­arken Hauses musste zum Bedauern der Architekte­n verworfen werden, da die Errichtung einer Erdwärmepu­mpe finanziell nicht umsetzbar war. Die einfachste, trotz schädliche Begleiters­cheinungen immer noch munter praktizier­te Methode der Energieein­sparung mittels Wärmedämmv­erbundsyst­ems kam aus gestalteri­schen und ökologisch­en Gründen nicht infrage. So blieb es bei einer Solaranlag­e, die zur Deckung des Warmwasser­bedarfes beiträgt und in den Heizkreisl­auf eingebunde­n werden kann Es ist aber alles vorgesehen

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