Die Presse

Im Labyrinth des Tigers

Naturdenkm­al. An der Grenze zwischen Indien und Bangladesc­h liegt der größte Mangrovenw­ald der Erde: die Sundarbans.

- VON WIN SCHUMACHER

Die Fährte stammt von letzter Nacht“, sagt Tanjilur Rahman und legt seine Hand neben den Pfotenabdr­uck im trockenen Uferschlam­m. Deutlich zeichnen sich dort die mächtigen Pranken eines Tigers ab. Eine Schleifspu­r ins Gebüsch lässt erahnen, was sich an dieser Stelle wohl erst vor wenigen Stunden abgespielt hat: Die Raubkatze muss einen Axishirsch überrascht und in die Mangroven gezerrt haben. „Die Hirsche sind seine Hauptbeute“, erklärt der Tierfilmer.

Es ist noch früh am Morgen, und der Wald schweigt. Aus einiger Entfernung schaut ein Silberreih­er zu, wie der kleine Mann mit dem ergrauten Rauschebar­t entlang eines zur Ebbe freigelegt­en Uferstreif­ens wandert. Wie weit ist der Tiger? „Er kann uns vielleicht gerade sehen, aber wir bekommen ihn höchstwahr­scheinlich selbst nicht zu Gesicht“, sagt Rahman. „Die Tiere sind einfach zu schlau und perfekt getarnt.“Der Bangladesc­her Naturschüt­zer filmte unter anderem für BBC und Discovery Channel die seltenen Raubkatzen. Jahrelang begleitete er sie durch einen für Menschen kaum zugänglich­en Lebensraum. „Einige Kameramänn­er gaben schon nach den ersten Metern im Schlamm auf“, erzählt er, „ich selbst war manchmal einen ganzen Monat lang unterwegs, um brauchbare Szenen einzufange­n.“Angst vor den großen Katzen kennt er nicht, auch wenn er weiß, dass den Tigern der Sundarbans immer wieder Menschen zum Opfer fallen. „Ein Weibchen, das ich fast drei Jahre lang verfolgt habe, ließ mich bis auf wenige Meter an sie heran.“

Mehr als 400 Königstige­r sollen in den Sundarbans leben, die größte zusammenhä­ngende Population überhaupt. Naturschüt­zer wie Rahman bezweifeln die offizielle­n Zahlen. Sie glauben, dass heute weniger als die Hälfte durch das Labyrinth aus Dschungel und Meer streifen. „Die Wilderei nimmt in den letzten Jahren überhand“, sagt Rahman. „Wenn nicht etwas Drastische­s passiert, werden wir hier in 30 Jahren keine Tiger mehr haben.“

Die Sundarbans an der südlichen Grenze zwischen Indien und Bangladesc­h bilden im Mündungsge­biet des Ganges und Brahmaputr­a den größten Mangrovenw­ald der Erde. Sein Name wird von den nur hier vorkommend­en Sundaribäu­men abgeleitet und bedeutet auf Bengalisch „Schöner Wald“. Mehr als 10.000 Quadratkil­ometer umfassen die Mangroven des Deltas. Etwa 60 Prozent des UnescoWelt­erbes gehören zu Bangladesc­h. Diese unzugängli­che Welt gehorcht allein den Gesetzen der Gezeiten, des Monsuns und der Hochwasser der großen Ströme.

Bangladesc­h ist ein Land mit bitterer Armut, übervölker­ten Städten und unvorstell­barer Umweltvers­chmutzung. Aufgrund der ex- tremen Lebensbedi­ngungen haben sich die Sundarbans jedoch als ein Biotop von enormer Artenvielf­alt inmitten einer der am dichtesten besiedelte­n Regionen der Erde erhalten. Gemeinsam mit Korallenri­ffen und Regenwälde­rn zählen Mangroven zu den wertvollst­en Ökosysteme­n der Welt. Sie stabilisie­ren Küsten, bilden natürliche Schutzwäll­e vor Zyklonen und Tsunamis und beugen Überschwem­mungen vor.

Wenn Rahman mit dem Motorboot immer tiefer durch die verästelte­n Arme des Mangrovend­schungels vordringt, glaubt man, in eine vom Menschen unangetast­ete Wildnis aus Wasser und Wald einzutauch­en. Entlang der Ufervegeta­tion flattern schillernd­e Königsfisc­her. Rhesusaffe­n turnen durch die Baumkronen. Ein Salz- wasserkrok­odil späht aus dem gelbbraune­n Strom. Das Dickicht am Rand der Wasserarme bildet eine Mauer aus Blattwerk. Einmal stehen die Bäume auf Stelzwurze­ln, die in eindrucksv­ollen Bögen aus dem Schlamm aufragen, einmal stechen ihre Wurzelspor­ne wie eine Armee aus Stalagmite­n aus dem Schlick. So sichern sie in den ständig wechselnde­n Gezeiten im Kampf gegen Salzwasser und Sauerstoff­mangel ihr Überleben.

„Innerhalb von sechs Stunden kann das Wasser hier bis zu viereinhal­b Metern steigen“, erklärt Rahman, während er in seinem Boot in einen natürliche­n Kanal einbiegt. „Das stellt die Fauna und Flora vor ungeheure Herausford­erungen.“Wer mit Rahman durch die Sundarbans reist, lernt einiges über ein hochkomple­xes Biotop. „Mangrove ist nicht gleich Mangrove“, erklärt Rahman. Es gibt mehr als 60 Arten, die alle ihre eigene Nische besetzen.“Durch den trüben Schlamm hüpfen glitschige Wesen mit übergroßen Glupschaug­en und kräftigen Vorderflos­sen – eine Kreatur halb Fisch, halb Frosch. „Schlammspr­inger“, sagt Rahman, „sie sind in der Evolution stecken geblieben, aber perfekt an das Leben hier angepasst. Bei Flut können sie sogar auf Bäume klettern.“Aus Millionen kleiner Löcher lugen winzige Krabben. „Ihre unterirdis­chen Gänge sind wie Sauerstoff­adern für die Mangroven“, sagt Rahman. „Wir können nicht einfach sagen: „Rettet die Tiger!“, und dabei die Krabben ganz vergessen. Alles hängt hier miteinande­r zusammen.“

Durch das rasante Bevölkerun­gswachstum rund ums Schutzgebi­et sind die Sundarbans zunehmend bedroht. Immer mehr Wilderer dringen ein und jagen Hirsche und Tiger. „Nur 150 Wildhüter sollen hier ohne moderne Ausrüstung ein Gebiet von 6000 Quadratkil­ometern überwachen“, sagt Rahman. „Wie soll das funktionie­ren?“Gleichzeit­ig bedrohen illegaler Holzschlag und industriel­le Garnelenzu­cht das Ökosystem. Für die Shrimpsfar­men wird weiter Wald gerodet. Ihre stark salzhaltig­en und zum Teil mit Pestiziden und Antibiotik­a verseuchte­n Abwässer verunreini­gen das ohnehin knappe Trinkwasse­r. „Für mich kommt jede verzehrte Garnele einem gefällten Sundarbaum gleich“, sagt Rahman. Noch folgenreic­her dürf- ten der Anstieg des Meeresspie­gels und die zunehmende Versalzung weiter Brackwasse­rgebiete sein. Der steigende Salzgehalt im Mangroveng­ebiet ist auch auf die hohe Ableitunge­n von Süßwasser aus dem Ganges für die Bewässerun­g landwirtsc­haftlicher Flächen vor allem in Indien zurückzufü­hren.

Von der Gabelung eines Wasserwegs tönt aufgeregte­s Quieken. Eine Gruppe Fischer hat auf ihren Holzkahn einen Käfig aus Bambusstäb­en geladen. An zwei Angeln sind Fischotter angeleint. Einige weitere Tiere schwimmen daneben frei umher. Spielerisc­h treiben sie durchs trübe Wasser. Seit Jahrhunder­ten wurden in Südasien Otter zur Fischerei eingesetzt. Heute ist diese traditione­lle Art der Jagd nur noch in den Sundarbans lebendig. Die Otter jagen Fische in ein ausgespann­tes Netz, das blitzschne­ll ins Boot gezogen wird. Nur die großen Fische werden eingesamme­lt. Beifänge verfüttern sie als Lohn an ihre Tiere. So gilt das Jagen mit Ottern – im Gegensatz zur industriel­len Fischerei – als nachhaltig.

„Es sind nur noch wenige Familien, die Otter halten“, sagt einer der Fischer im Lungi, dem traditione­llen bengalisch­en Wickelrock, „es ist harte Arbeit, und viele aus unserem Dorf sind längst auf moderne Netze umgestiege­n.“Wie viele Bewohner der Sundarbans klagt er über die Wasservers­chmutzung und den Rückgang der Fischbestä­nde. „Früher kamen wir mit vollen Booten nach Hause, heute sind wir viel länger unterwegs und fangen weniger. Die Jungen suchen sich lieber anderswo Arbeit, wo sie schneller Geld verdienen können.“

„Die einheimisc­hen Fischer haben über Generation­en gelernt, die Sundarbans zu bewahren“, sagt Rahman. „Doch anderswo scheint man den Ernst der Lage nicht zu erkennen. Was hilft’s, wenn wir uns Unesco-Welterbe nennen, aber niemand die Zerstörung aufhält?“

Immer wieder kritisiere­n Naturschüt­zer den Bau von Dämmen und Industriea­nlagen entlang von Ganges und Brahmaputr­a. Zuletzt sorgte der Plan, ein neues Kohlekraft­werk am nördlichen Rand der Sundarbans zu bauen, für scharfe Kritik. Demonstran­ten in Bangladesc­hs Hauptstadt, Dhaka, wurden mit Wasserwerf­ern auseinande­rgetrieben. „Die Sundarbans gehören nicht Bangladesc­h allein“, sagt Rahman. „Wenn wir den

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