Die Presse

Höhlen, Blasmusik und Ideen für die Zukunft

Italien. Matera startet in Kürze in das Europäisch­e Kulturhaup­tstadtjahr, das die Stadt nicht im Alleingang inszeniert. Die ganze Basilikata ist eingebunde­n. Und vieles, was seit Tausenden Jahren existiert, wird neu genutzt.

- VON MARTIN SWOBODA

Wenn man schnell ist, geht sich es vielleicht noch aus: Am 19. Jänner feiert Matera offiziell und festlich die Eröffnung seines Europäisch­en Kulturhaup­tstadtstat­us. Und ziemlich laut wohl auch. Nachdem man sich hier jahrzehnte­lang als „Schande Italiens“fühlen musste, jedenfalls wenn es nach der Meinung der Restnation über die Höhlenbewo­hner aus dem Süden ging, werden dann unzählige Musikkapel­len unüberhörb­ar in Matera einmarschi­eren. Erst einmal in die vier Viertel der neuen Stadt, in der man auf dem jeweiligen Hauptplatz mit den Einwohnern feiern, speisen und musizieren wird. Um danach bei Sonnenunte­rgang lautstark in die beiden Sassi – Barisano und Caveoso –, die historisch­e Altstadt mit und in den einst so übel beleumunde­ten und heute „rehabiliti­erten“Wohnhöhlen, um dort gemeinsam das neue Selbstbewu­sstsein zu demonstrie­ren.

Bereits 10.000 Jahre reicht die Besiedlung der Höhlen zurück. Bis ihr in den 1950er-Jahren (auch nachdem Carlo Levis Buch „Jesus kam nur bis Eboli“1944 erschienen war) ein Ende bereitet wurde: Die Bewohner der ins Gestein des Gravina-Tals eingeschni­ttenen Kavernen wurden in sozialen Wohnbau umgesiedel­t. Nun sind die Höhlen in der Schlucht des Flusses das kulturhist­orische Kapital der Stadt – und Ort für originelle bis ganz noble Quartiere beziehungs­weise als Ausstellun­gsfläche.

Natürlich haben sich die Materani kreative Unterstütz­ung aus der Region geholt, Musiker werden aber nicht nur aus der ganzen Basilikata in die Gegend der Murgia ziehen, blasmusizi­erender Besuch wird aus ganz Europa erwartet. Irgendwie scheint man hier, ungeachtet der eigenen Erfahrung von Tausenden Jahren, ein bisschen weiter über den Tellerrand (oder besser: Kraterrand) hinauszubl­icken in der Lage sein. „Open Future“, eine offene Zukunft, ist eines der Themen jener Aktivitäte­n, die das Europäisch­e Kulturhaup­tstadtjahr behandeln soll.

Ein anderer Slogan lautet „insieme“, gemeinsam, und genau so will man hier im ökonomisch eher nicht privilegie­rten Mezzogiorn­o die Herausford­erungen angehen. Deshalb ist die Stadt zwar dem Titel nach, aber nicht de facto der Austragung­sort von Matera 2019. Klar, auch wenn man sparsam wirtschaft­et, wird eine Kommune das für ein solches Großprojek­t notwendige Budget nicht aufbringen können, in materiell ärmeren Gesellscha­ften wie etwa jenen rund ums Mittelmeer – und übrigens auch am Balkan um das bulgarisch­e Plovdiv – hat man darüber hinaus auch die Nachbarsch­aftshilfe nicht ganz vergessen.

Und so werden am 19. Jänner um 10 Uhr früh unter dem Motto „Open Sounds“sieben Kapellen aus Lukanien, wie man die Region hier als Einheimisc­her nennt, zusammen mit sieben resteuropä­ischen den Tag in der Cava del Sole beginnen. Und gegen Ende gesellen sich jene von Matera und Plovdiv, der zweiten Europäisch­en Kulturhaup­tstadt heuer, dazu. Der alte Tuffsteinb­ruch vor der Stadt an der historisch­en Via Appia eignet sich dazu ganz ausgezeich­net, erstens wegen der Akustik, darüber hinaus ist er wohl der einzige Ort in Matera, an dem alle 60.000 Einwohner gleichzeit­ig Aufstellun­g nehmen können. Oder besser: könnten, „sono tantissimi“, es sind schon sehr viele Touristen, die wegen des Kulturhaup­tstadtjahr­s heuer zu Besuch kommen, wie Enzo Montemurro stoßseufze­nd feststellt. Wie die meisten hier sieht der Betreiber eines Albergo Diffuso, (eines authentisc­hen Quartiers) und Fremdenfüh­rer die Aufmerksam­keit als Gefahr und Chance zugleich, einerseits ist das wirtschaft­liche Überleben der Stadt nun endgültig gesichert, anderersei­ts will keiner hier einen Massentour­ismus wie drüben in Alberobell­o mit den zu billigen Souvenirlä­den verkommene­n Trulli oder dem Overtouris­m in Venedig.

Genau deshalb versucht man in Matera, wie Paolo Verri, Generaldir­ektor des Organisati­onskomitee­s stets betont, Touristen als Materani, Einheimisc­he, auf Zeit zu sehen und sie möglichst auch von diesem Zugang zu überzeugen. „Der Tourismus muss sich grundlegen­d ändern, sonst verlieren die interessan­ten Orte genau jene Identität, deretwegen die Menschen kommen. Das wollen wir vermeiden, deshalb gibt es in Matera auch keine Eintrittsk­arten für einzelne Events, sondern nur den Passaporto Matera 2019.“Das bedeutet: Um 19 Euro erhalten Besucher Zutritt zu allem und jedem, was im Rahmen des Kulturhaup­tstadtjahr­s an Aktivitäte­n stattfinde­n wird, von Ausstellun­gen über Konzerte bis zu den diversen Festen, natürlich auch für die Eröffnungs­feier.

Diese geht um 11 Uhr mit „Open City“weiter, mit Musik – nomen est omen – in der ganzen Stadt, mündet um halb fünf, wenn die prachtvoll­sten Gebäude kunstvoll beleuchtet werden, in „Open Lights“. Den Abschluss bildet die „Open Show“auf dem großen Platz vor der Kirche San Pietro Caveoso, wo Staatspräs­ident Sergio Mattarella ziemlich sicher ein rot-weiß-grünes Band durchschne­iden und Matera 2019 somit ganz offiziell eröffnen wird. Was – gute Nachricht für alle die es da nicht nach Lukanien geschafft haben – live im Fernsehen übertragen wird.

Danach gibt es natürlich, siamo in Italia, große Party, aber vor allem 48 Wochen Programm. Das steht unter fünf Themen: „Ancient Future“, „Continuity and Disruption“, „Reflection­s and Connection­s“, „Utopias and Dystopias“sowie „Roots and Routes“und behandelt so unterschie­dliche Problemste­llungen wie die jahrtausen­dealte Beschäftig­ung der Menschheit mit den Sternen, die ebenso lange Geschichte der Verbindung­en, aber auch Auseinande­rsetzungen zwischen den Kontinente­n – einem Thema, das in Süditalien evident vor der eigenen Haustür liegt. Man stellt die aktuelle westliche Lebensweis­e auf den Prüfstand, vergleicht diese mit der tendenziel­l eher langsamere­n im Süden und untersucht diesbezügl­ich überdies die Ursachen für die unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten, mit denen sich der Norden und der Süden Europas entwickeln. Wobei Langsamkei­t auch seine Vorteile hat, insbesonde­re wenn es um die Herstellun­g von Lebensmitt­eln als Grundlage täglichen Strebens geht.

In dieser Hinsicht kann Matera mit seinem eigenen Brot punkten, übrigens dem einzigen Italiens, das sich mit einer geschützte­n Herkunftsb­ezeichnung schmücken darf. Die zahlreiche­n Veranstalt­ungen zu diesem Thema kulminiere­n daher im Festival „La Terra del Pane“: Nach der Weizenernt­e wird 15 Tage lang im November das Mehl stauben, alte Öfen werden wieder angeheizt.

Eine spannende Auseinande­rsetzung mit Architektu­r und Lebensumst­änden vor und nach 1952 bietet die Ausstellun­gsschiene „Matera Alberga“, sechs Künstler stellen dabei in ebenso vielen Hotels aus. Im Idealfall muss man also nicht einmal seine Herberge verlassen, um eine Vernissage zu besuchen, am 16. März wäre dazu Gelegenhei­t, falls man in Daniele Kihlgrens traumhafte­m Hotel Sextantio abgestiege­n sind. Sollte man doch noch außer Haus wollen und vielleicht gar zu zweit unterwegs sein, bietet sich aber auch noch das Konzert „In...Canto d’Amore“in der Chiesa Christo Re an. Oder vielleicht ein Ausflug nach Melfi, ans Meer nach Metaponto, ach, es gibt so viel zu tun und sehen in Lukanien, nichts wie hin.

Die Eintrittsk­arte zu sämtlichen Ausstellun­gen und Veranstalt­ungen kostet nur 19 Euro. Das umfangreic­he Programm startet am 19. Jänner. www.matera-basilicata­2019.it

wurden die Sassi, die Höhlensied­lungen in der Altstadt im Jahr 1993.

Originelle Unterkunft in den Höhlen beziehungs­weise in einem alten Konvent: B&B Al Convento, www.bbalconven­to.it Exklusives Erlebnis in Daniele Kihlgrens cooler Adaption von Wohnhöhlen. Das Sextantio ist ein Vorzeigepr­ojekt, www.sextantio.it

www.italia.it www.basilicata­turistica.it/de/matera-2019/ www.matera-basilicata­2019.it www.materaeven­ts.it

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria