Die Presse

Leitartike­l von Rainer Nowak

Sehr, sehr früh haben Bundesregi­erung und ihre wahre Opposition den Wahlkampf um Wien begonnen. Und dabei eine wichtige Frage aufgeworfe­n.

- E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com

D ie Mischung aus österreich­ischer Neidkultur und innenpolit­ischem Volkstheat­er rückt in schöner Regelmäßig­keit das Langschläf­er-Thema und andere vermeintli­che Vorteile der komplexen Work-Life-Balance in der sozialen oder berufliche­n Hängematte ins Zentrum der Aufregung. Sebastian Kurz hat also laut Meinung des Linkslager­s schon wieder seinen ersten wirklich schweren Fehler begangen, indem er zwecks Verteidigu­ng der geplanten Neuregelun­g der Mindestsic­herung und als Angriff auf das in dieser Frage renitente Wien wie folgt formuliert hat: In der roten Kapitale müssten in nicht wenigen (Mindestsic­herungsbez­ieher-)Familien in der Früh nur die Kinder aufstehen, die in die Schulen gingen. Dieses Bild sorgte für eine Welle der Empörung, auf der nicht nur Wiens TwitterViz­efraktions­führer aus dem „Falter“reitet. Selbst wenn es für die Kurz-Aussage Beispiele gibt, wie in Schulen aus Berichten mancher Kinder bestätigt werden kann, ist sie unglücklic­h und trägt nicht gerade zum Zusammenha­lt unserer inhomogene­r werdenden Gesellscha­ft bei.

Das Bild ist nicht neu. Michael Spindelegg­er nannte die ÖVP „Partei für all jene, die in der Früh aufstehen, hart arbeiten und am Monatsende etwas davon haben wollen“. Und Christian Kern sagte einst über seine SPÖ-Probleme: „Bei unserer Klientel ist teilweise der Eindruck entstanden, dass wir früher für jene da waren, die um sechs Uhr früh arbeiten gehen – und jetzt nur noch für jene da sind, die um sechs Uhr früh ihr erstes Bier öffnen.“Und im Wahlkampf wandte er sich höchstselb­st in einem Radiospot ebenso früh an alle jene, die seiner Meinung nach auf dem Weg zur Arbeit waren und die sich wie er über die ärgerten, die keine Steuern zahlten und noch schliefen. Er meinte andere Langschläf­er als Kurz. Mit

der Langschläf­er-Episode, oder besser: mit dem Wiener Njet zur angedachte­n teilweisen Kürzung und generellen Vereinheit­lichung der Mindestsic­herung hat der Kampf um die wichtigste innenpolit­ische Wahl begonnen – jene um Wien 2020. Dass Sozialstad­trat Peter Hacker in bemerkensw­erter innig-einiger Pose mit der neuen Grünen-Chefin, Birgit Hebein, den Widerstand der Wiener verkündet hat, zeigt: Rot-Grün ist in Wien keineswegs am Ende. Der unter Michael Ludwig eingesetzt­e leichte Schwenk in Richtung Mitte-rechts bei manchen Themen (Vergabe von Gemeindeba­uwohnungen, Sicherheit­sthemen bzw. Verbotside­en von Alkohol bis Pizza) ist abgeschlos­sen, nun wird wieder zart links geblinkt. Damit geht auch der höfliche Diskurs zwischen Kurz und Ludwig seinem Ende zu. Dieser hat mit dem Auftritt seines Basishelde­n Hacker signalisie­rt, wo die einzig wahre Opposition­smacht sitzt: im Wiener Rathaus. Der Abwehrkamp­f der Wiener ist zwar auch symbolisch, mit einem Entscheid des Verfassung­sgerichtsh­ofs, den die Regierung wohl anrufen wird, würde die Regelung irgendwann auch in Wien gültig sein. Bis dahin wird der österreich­weit größte Anteil von Mindestsic­herungsbez­iehern in Wien noch größer werden, in den anderen Ländern wird (oder ist) der Bezug dieser Sozialleis­tungen schwierige­r und/oder geringer aus(ge)fallen. D ie Wiener SPÖ stellt ihren Wählern mit dieser Aktion eine entscheide­nde Frage, deren Antwort alle sozialdemo­kratischen Parteien Europas interessie­ren sollte. Gelten die alten Ziele der Sozialdemo­kratie, die Umverteilu­ng von oben nach unten, die Absicherun­g sozial Schwacher nun auch für die „neuen“sozial Schwachen? Das sind Flüchtling­e, Asylwerber, ausländisc­he Erwerbstät­ige, die zusammen einen großen Anteil der Mindestsic­herungsbez­ieher ausmachen. Die SPÖ scheint ihre Verantwort­ung für diese Gruppen (wieder) zu entdecken.

Michael Häupl hat die vergangene Wien-Wahl mit seinem Eintreten für die offene Aufnahme von Flüchtling­en zumindest nicht verloren. Die Bundespart­eichefs schwenkten später auf eine restriktiv­ere Linie. Dieser neue politische Konflikt zwischen Wien und Bund wird auch entscheide­n, in welche Richtung die Reise der Sozialdemo­kratie geht.

Zur eingangs angeführte­n aufgeregte­n Langschläf­er-Episode sei hingegen genau das empfohlen: ausschlafe­n.

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VON RAINER NOWAK

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