„Die Pflege darf nicht an Frauen hängen bleiben“
Wenn sich nichts ändert, explodieren die Kosten. Pflegeexpertin Silvia Rosoli im Gespräch über einen notwendigen Strukturwandel.
Pflege ist dieses Jahr eines von drei Kernthemen, denen sich Türkis-Blau intensiv widmen will. Es gibt erste Ideen – ein Konzept soll bis Ende des Jahres entwickelt werden. „Die Presse“hat mit Silvia Rosoli, Abteilungsleiterin der Wiener Arbeiterkammer für Pflegepolitik, darüber gesprochen, wo Reformen ansetzen könnten.
1 Wie viel soll und darf die Pflege kosten? Wie soll sie finanziert werden?
Rosoli sieht mehrere Möglichkeiten: Man kann die Sozialversicherungsbeiträge erhöhen – das würde aber den Faktor Arbeit belasten. Eine Pflegeversicherung sei wenig sinnvoll, wie man am Beispiel Deutschland sieht, sondern wäre nur eine Teilkaskolösung. Bei einer betrieblichen Vorsorge würde „Geld risikoreich auf dem Kapitalmarkt veranlagt, das dann erst viel später zur Verfügung steht“, warnt Rosoli. Dann könnte die Pflege, so wie derzeit, steuerfinanziert werden, für Rosoli die sinnvollste Lösung. Prinzipiell wäre es wichtig, Geld von Bund, Ländern, Gemeinden in einem Fonds zu bündeln. „Dann könnte man sich anschauen: Wie viel steht insgesamt zur Verfügung, und was will man sich damit leisten? Klar ist, dass es dringend eine neue Struktur und größere Investitionen braucht, da die Kosten aufgrund der demografischen Entwicklung explodieren. Wir geben derzeit für Sachleistungen rund zwei Milliarden Euro aus. Studien zeigen, dass diese Kosten bis 2050 auf neun Milliarden Euro anwachsen werden.“Infrastrukturminister Norbert Hofer hat 2010 als damaliger Pflegesprecher der FPÖ ein Buch zum Thema Pflege geschrieben. Da schlägt er unter anderem vor, dass für Pflege künftig rund drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausgegeben werden sollen. 2016 waren es in Österreich rund 1,2 Prozent. Rosoli kann Hofers Vorschlag durchaus etwas abgewinnen.
2 Wie sinnvoll ist es, Menschen so lang wie möglich zu Hause zu pflegen?
„Ja, wir wissen, dass Menschen gern so lang wie möglich zu Hause gepflegt werden wollen, wenn es möglich ist. Dafür müssen aber mobile Pflege und Betreuung dringend ausgebaut werden, sonst ist es wie bei der Kinderbetreuung: Es bleibt an den Frauen hängen“, betont Rosoli. In Österreich sind rund 70 Prozent der pflegenden Angehörigen, die gleichzeitig erwerbstätig sind, weiblich. 43 Prozent der Pflegenden würden ihren Job für die Betreuungstätigkeit aufgeben, weitere 51 Prozent ihre Erwerbstätigkeit deutlich reduzieren. „Das ist für den Arbeitsmarkt schlecht, für die Wirtschaft schlecht – und es belastet auch das Pensionssystem. Da muss man gegensteuern.“
3 Nicht nur Geld, sondern auch Personal fehlt. Woher soll das kommen?
„Die Regierung hat eine Imagekampagne für Pflegeberufe angekündigt. Das kann man machen, aber es löst das Problem nicht: Viele junge Menschen, die sich entschlossen haben, diesen Beruf zu erlernen, geben auf, bevor sie 25 Jahre alt sind.“Es sei eine physisch wie psychisch belastende Tätigkeit, dazu kämen anstrengende Dienstzeiten, und das bei schlechter Bezahlung. „Daran muss man arbeiten – eigentlich ist das keine Raketenwissenschaft“, sagt die AK-Expertin. Sie würde außerdem das Ausbildungswesen überarbeiten und weitere Schultypen für Pflegeausbildungen einführen.
4 Was müsste in Sachen Pflege noch dringend reformiert werden?
Laut Rosoli braucht es mehr Personal, bessere Arbeitsbedingungen, einen massiven Ausbau mobiler Betreuung und Pflege sowie die Abschaffung der Selbstbehalte in diesem Bereich. Auch die Kriterien für die Pflegegeldeinstufung müssten überarbeitet werden, damit sie den tatsächlichen Pflegebedarf widerspiegeln. Es wäre außerdem praxisgerechter, würden vorwiegend ausge- bildete Pflegefachkräfte die Einstufung vornehmen. „Das Thema der Mehrfachmedikation bei älteren Menschen ist mir ein großes Anliegen. Eine gut aufgestellte E-Medikation könnte Wechselwirkungen minimieren und würde die Kosten enorm verringern“, so die AK-Expertin.
5 Gibt es internationale Vorzeigebeispiele, an denen sich Österreich orientieren sollte?
„Sozialsysteme sind oft nur schwer vergleichbar. Auffällig ist aber, dass es alten Menschen in Ländern, die einen größeren Anteil ihres Bruttoinlandsprodukts in Pflege investieren, deutlich besser geht.“Skandinavische Länder wie Schweden, Finnland oder Dänemark sowie die Niederlande können hier als Positivbeispiele genannt werden.
Eine private Pflegeversicherung ist wenig sinnvoll wie man am Beispiel Deutschland sieht. Silvia Rosoli, Pflegeexpertin der Wiener Arbeiterkammer