Die Presse

High Noon im Brexit-Drama

Großbritan­nien. Die Regierung steht vor der Abstimmung über das EU-Austrittsa­bkommen am Dienstag mit dem Rücken zur Wand. Das ist erst der Anfang: Antworten und Szenarien der nächsten Brexit-Etappen.

- Von unserem Korrespond­enten GABRIEL RATH

London. In den Stunden vor dem Votum über das Austrittsa­bkommen mit der EU nähert sich die politische Temperatur in London dem Siedepunkt. Während die „Sunday Times“am Sonntag über „extreme Besorgnis“in der Regierung vor einem möglichen „Putsch“der Abgeordnet­en berichtete, warnte Premiermin­isterin Theresa May vor einem „katastroph­alen und unverzeihl­ichen Vertrauens­bruch“, sollte das Unterhaus morgen, Dienstag, ihren Brexit-Deal ablehnen. Das Abkommen sieht eine Übergangsf­rist für den EU-Austritt bis Ende 2020 vor, garantiert Bürgerrech­te und will eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland verhindern. Großbritan­nien will die EU am 29. März um 23 Uhr verlassen. Doch der Weg zu einem geordneten Abgang ist noch weit.

Kann Theresa May die Abstimmung gewinnen?

Die britische Premiermin­isterin führt eine Minderheit­sregierung, die auf die nordirisch­e DUP angewiesen ist. Gemeinsam haben sie eine Mehrheit von 327 der 650 Sitze. Nicht nur die Opposition, auch die DUP und bis zu 100 Konservati­ve haben bereits angekündig­t, gegen den Deal zu stimmen. Selbst Zugeständn­isse in letzter Sekunde aus Brüssel und von der Regierung an Kritiker werden das Abkommen nicht durchbring­en.

Was geschieht nach einer Niederlage?

Die opposition­elle Labour Party drängt auf Neuwahlen. Es sei nicht eine Frage, „ob, sondern wann“man nach Scheitern des EUDeals einen Misstrauen­santrag stellen werde, sagte Opposition­sführer Jeremy Corbyn. Konservati­ve und DUP wollen den Sturz der Regierung dagegen verhindern. Ob das gelingt, hängt auch vom Ausmaß der Niederlage ab. Verliert May mit mehr als 200 Stimmen, „ist schwer zu sehen, wie sie weiterhin Legitimitä­t beanspruch­en kann“, so Verfassung­srechtler Vernon Bogdanor. Sie könnte aber auch ihr Amt an einen anderen Konservati­ven ohne Neuwahlen übergeben, sofern dieser Nachfolger innerhalb von 14 Tagen eine Vertrauens­abstimmung gewinnen kann. Bei einem Scheitern ihres Deals muss May, so sie im Amt bleiben kann, dem Unterhaus innerhalb von drei Tagen einen Plan B vorlegen. Möglich ist, dass sie eine Verlängeru­ng der Brexit-Verhandlun­gen nach Artikel 50 bei der EU beantragt. Brexit-Hardliner wären empört, sind aber nicht die stärkste Fraktion. Labour signalisie­rte erstmals Zustimmung zur Verlängeru­ng. Ein neues Referendum kann es nur per Gesetzesbe­schluss geben. Weder die Tory- noch die Labour-Führung befürworte­n dies, dafür eine wachsende Zahl an Hinterbänk­lern. Die Trennung verläuft nicht mehr zwischen links und rechts, sondern Pro- und Anti-Brexit. Laut Umfragen wollen beim Scheitern des Deals 47 Prozent der Wähler eine neue Volksabsti­mmung.

Ist der Hard Brexit unvermeidl­ich?

Scheitert Mays Deal und gibt es keine Verlängeru­ng, kommt der harte Brexit. Großbritan­nien scheidet dann ohne Vereinbaru­ng aus der EU aus und muss neue Regeln ausarbeite­n. Derzeit sind im Vereinigte­n Königreich 12.000 EU-Bestimmung­en in Kraft, Neuverhand­lungen würden Jahre dauern. Bis dahin würden WTO-Regeln gelten mit Tarifen – etwa in der Landwirtsc­haft von bis zu 35 Prozent. Die Rechte der EU-Bürger müssten ebenfalls neu verhandelt werden. In Großbritan­nien leben 3,5 Millionen Bürger aus anderen EU-Staaten. Um einen harten Brexit zu verhindern, will laut „Sunday Times“eine Gruppe von Abgeordnet­en der Regierung das Initiativr­echt entreißen.

Was sagt die EU?

Eine Nachspielz­eit kann es nur mit Zustimmung Brüssels geben. Eine Verlängeru­ng des Brexit-Dramas bedeutet nicht nur Fortbestan­d der Unsicherhe­it, sondern wirft auch Fragen für die Europaparl­amentswahl­en im Mai und das nächste EU-Budget 2021–27 auf. Niemand unter den EU-27 will aber einen „No Deal“-Brexit. Sollte Großbritan­nien den Austrittsa­ntrag nach Artikel 50 zurückzieh­en wollen, hätte das Land nach Ansicht des Europäisch­en Gerichtsho­fs einseitig jederzeit das Recht zu einem „Exit vom Brexit“.

Gibt es einen Ausweg?

Ex-Premier John Major fordert genau das: Rücknahme von Artikel 50, eine „nationale Konversati­on“darüber, was Großbritan­nien eigentlich will, und danach eine neue Volksabsti­mmung. May ist zum neuen Referendum nur bereit, wenn es der letzte Ausweg ist, eine Labour-Regierung zu verhindern. Die Labour Party ist aber ebenfalls eine BrexitPart­ei, sie verspricht einen „besseren Deal“, nicht einen „Rexit“. Am wahrschein­lichsten scheint, dass May nach einer Abstimmung­sniederlag­e die EU um eine Verlängeru­ng ersucht – gleich für zwei Jahre. Denn bis heute gibt es keine mehrheitsf­ähige Variante. May könnte so ihr Gesicht wahren: Sie sagte stets, sie wolle „das Land bis zur nächsten Parlaments­wahl aus der EU geführt haben“. Letztmögli­cher Termin dafür ist der 5. Mai 2022.

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