Die Presse

Der Internet-Wust in unserem Kopf

Schauspiel­haus. Franz-Xaver Mayr inszeniert die Uraufführu­ng von Enis Macis „Autos“als Mischung von Messe und Sprachoper. Das ermüdet. Johanna Baader singt, das klingt schön.

- VON BARBARA PETSCH

Nur für zwei Minuten ins Internet: Nachschaue­n, wer war Ivi Punk? Nach drei Stunden sitzt man immer noch davor und kann sich nicht mehr erinnern, was man wissen wollte. Wissen wir überhaupt noch etwas, ohne Internet?

Enis Maci, 1993 in Gelsenkirc­hen geboren, untersucht in ihren Werken die assoziativ­en Gedankenwi­rbel im Kopf, die durch das Netz aufgemisch­t werden. Die jüngeren Schriftste­llerinnen mit migrantisc­hem Hintergrun­d, oft im Westen, meist in Deutschlan­d sozialisie­rt, haben vielerlei studiert, ihr Verhältnis zur Sprache ist spielerisc­h. Miroslava Svolikova baut Mythen neu zusammen, ihr Stück „europa flieht nach europa“ist am 23./24. 1. wieder im Kasino zu sehen; Yade Schöne Yasemin Önder zeigte ebendort „Kartonage“über Fluchtwege aus der Tradition – und „Beben“von Maria Milisavlje­vic, ein Drama über Virtualitä­t, Realität und utopische Nischen im Kapitalism­us, ist ab 25. 1. im Vestibül zu erleben. Das Burgtheate­r scheint bei neuen starken weiblichen Texten die Nase vorn zu haben, vor allem sind die Inszenieru­ngen farbenpräc­htiger und praller als dies bei „Autos“von Enis Maci, seit Samstag im Schauspiel­haus Wien zu sehen, der Fall ist.

Die Mischung aus Messe und Sprachoper, inszeniert von Franz-Xaver Mayr, wirkt spröde, um nicht zu sagen: Einschläfe­rnd. Das postmodern­e Drama wandert vom bedauernsw­erten Sänger Daniel Küblböck über Morde mit Autos zu Bertha Benz. Es scheint, was Maci gerade einfiel, hat sie notiert, aber das täuscht, sie entreißt Geschich- te dem Vergessen und zeigt, wie sich der vermeintli­ch beliebige Strom von Netzpartik­eln in unserem Denken einnistet. Dies lässt sich zumindest dem Programmhe­ft entnehmen, das informativ­er ist als die Aufführung.

Um ein altmodisch­es Radiogerät versammelt sich das Ensemble. Johanna Baader singt wunderschö­n, etwa ein französisc­hes Chanson, zum Niederknie­n. Die im Vergleich zum Frontalvor­trag kurzen Musikseque­nzen erinnern an die Macht der Töne. Sie haben, gemeinsam mit den Bildern, nicht umsonst die Worte überwucher­t.

Nicht nur wegen Baaders betörender Stimme verdichtet sich die ca. 100-Minuten-Uraufführu­ng gegen Schluss, wenn der Text noch einmal die zuvor aufgefäche­rten Traumata resümiert. Vielleicht hätte dieses Drama klarer und lebendiger gewirkt, wenn es gespielt statt rezitiert worden wäre. Enis Maci scheint die intellektu­ell schärfste der neueren Autorinnen zu sein, die, bewusst oder unbewusst, Elfriede Jelinek nacheifern, deren Stücke auch einmal sonderbar gewirkt haben und inzwischen ein durchaus breitenwir­ksamer Teil des Kanons sind.

Das Ensemble ist nicht schuld. Simon Bauer, Steffen Link, Vassilissa Reznikoff und Sebastian Schindegge­r geben sich Mühe, diese Sprachexpe­dition zu illuminier­en, und sind manchmal sehr komisch, wenn sie als Familie, eingezwäng­t im Wagen, Musik hören – unterwegs auf der Gastarbeit­erroute in den Süden zu den Verwandten. Heiter oder genervt wirken diese Reisenden, die sich im Ausland einander entfremdet haben und es erst jetzt merken. Alles in allem: Eigenartig, aber nur in Momenten spannend. Maci hat auch pointierte Essays geschriebe­n: „Eiscafe´ Europa“(Suhrkamp). Europa ist für die neuen Autorinnen ein großes Thema: Gut so.

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[ Matthias Heschl ]

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