Wie Leningrad musikalisch Petersburg wurde
Konzerthaus. Waleri Gergijew und sein Mariinsky-Orchester können mit einem Tschaikowski-Zyklus die Erinnerung an einstige Gastspiele der Leningrader Philharmoniker unter Jewgeni Mrawinski nicht löschen.
Denkmalpflege ist so eine Sache: Im Fall von Pjotr Iljitsch Tschaikowski sollte sie Standards konservieren, ohne der Restauration zu verfallen, aber auch Vergessenes oder nahezu Unbekanntes wiederbeleben. So ist der dreiteilige Symphonien-Zyklus im Konzerthaus zu verstehen, wo jeweils ein Blockbuster mit einem Stiefkind kombiniert wird. Das Mariinsky-Orchester unter seinem Tausendsassa Waleri Gergijew waren dafür als prominente Zeugen vorgesehen, die Kompetenz erwarten ließen.
Tschaikowski trifft viele Geschmäcker, sorgt für volle Kassen – festgemacht ist seine Attraktion an den Symphonien 4 bis 6, oft bis zum Überdruss strapaziert, malträtiert und heruntergedroschen. Von den drei ersten Symphonien weiß man bestenfalls, dass es sie gibt. Wie ungerecht und kurzsichtig kann doch der Musikbetrieb sein.
Schon die Erste Symphonie, g-Moll, verdiente einen höheren Stellenwert, sie ist alles andere als eine Jugendsünde, wiewohl unter großen Schmerzen geboren. Die kompakte Darstellung durch das Mariinsky-Orchester unter Gergijews nervöser Gespanntheit garantierte zur Eröffnung des Samstagkonzerts einer Musik Zustimmung und Erfolg, die zweifelsohne Qualitäten birgt.
Der Beiname „Winterträume“bedient natürlich Klischees, es zählt aber, wie geschickt der junge Tschaikowski als Einzelkämpfer mit dem zentraleuropäischen Erbe der (deutschen) Symphonie umging und ohne jeden Kitsch Stimmungsmusik hervorzauberte – in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als die russische Musik krampfhaft versuchte, sich selbst zu definieren. Tschaikowski arbeitet manchmal im Bläsersatz mit schrägen Akkordreibungen, die frech in die Zukunft deuten. Was macht es da schon, dass ihm im Scherzo Mendelssohn väterlich über die Schulter schaut und im Finale ein Fugato etwas verkrampft rüberkommt, Respekt verdient vor allem das um ein einziges Thema kreisende Adagio cantabile – diesmal belebt vom erstklassigen St. Petersburger Oboisten.
Die gedrillten russischen Musiker setzten sich nicht dem Verdacht aus, die „Winterträume“wären ihnen eine Herzensangelegenheit gewesen. Bekenntnishaft dagegen nach der Pause die „Pathetique“.´ Da war für viele im Publikum wieder die Welt ganz in Ordnung, schließlich kennt man diese Musik aus- und inwendig. Ebenso Gergijews exzessive Interpretation: Maximale emotionale Belastbarkeit an der Grenze zur technischen Perfektion: Da kann schließlich niemand anders, als sich die Seele aus dem Leib zu spielen. Es tut gut, dass es im strengen Kollektiv doch Platz für individuelle Persönlichkeiten gibt: Wenn es die Flöte im „Walzer“schleudert, machen es Soloklarinette und -fagott wieder gut . . .
St. Petersburg in Ehren. Was an Klangkultur und musikalischem Erfahrungsniveau einst die legendären „Leningrader“unter Mrawinski boten, lag meilenweit über Mariinskys Möglichkeiten.