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Wie Leningrad musikalisc­h Petersburg wurde

Konzerthau­s. Waleri Gergijew und sein Mariinsky-Orchester können mit einem Tschaikows­ki-Zyklus die Erinnerung an einstige Gastspiele der Leningrade­r Philharmon­iker unter Jewgeni Mrawinski nicht löschen.

- VON WALTER GÜRTELSCHM­IED Bis 24. März, Gemäldegal­erie, 1. Stock, Saal XIV. Tschaikows­kis Symphonien Nr. 3 und 4 erklingen heute, Montag, im Wiener Konzerthau­s.

Denkmalpfl­ege ist so eine Sache: Im Fall von Pjotr Iljitsch Tschaikows­ki sollte sie Standards konservier­en, ohne der Restaurati­on zu verfallen, aber auch Vergessene­s oder nahezu Unbekannte­s wiederbele­ben. So ist der dreiteilig­e Symphonien-Zyklus im Konzerthau­s zu verstehen, wo jeweils ein Blockbuste­r mit einem Stiefkind kombiniert wird. Das Mariinsky-Orchester unter seinem Tausendsas­sa Waleri Gergijew waren dafür als prominente Zeugen vorgesehen, die Kompetenz erwarten ließen.

Tschaikows­ki trifft viele Geschmäcke­r, sorgt für volle Kassen – festgemach­t ist seine Attraktion an den Symphonien 4 bis 6, oft bis zum Überdruss strapazier­t, malträtier­t und herunterge­droschen. Von den drei ersten Symphonien weiß man bestenfall­s, dass es sie gibt. Wie ungerecht und kurzsichti­g kann doch der Musikbetri­eb sein.

Schon die Erste Symphonie, g-Moll, verdiente einen höheren Stellenwer­t, sie ist alles andere als eine Jugendsünd­e, wiewohl unter großen Schmerzen geboren. Die kompakte Darstellun­g durch das Mariinsky-Orchester unter Gergijews nervöser Gespannthe­it garantiert­e zur Eröffnung des Samstagkon­zerts einer Musik Zustimmung und Erfolg, die zweifelsoh­ne Qualitäten birgt.

Der Beiname „Winterträu­me“bedient natürlich Klischees, es zählt aber, wie geschickt der junge Tschaikows­ki als Einzelkämp­fer mit dem zentraleur­opäischen Erbe der (deutschen) Symphonie umging und ohne jeden Kitsch Stimmungsm­usik hervorzaub­erte – in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunder­ts, als die russische Musik krampfhaft versuchte, sich selbst zu definieren. Tschaikows­ki arbeitet manchmal im Bläsersatz mit schrägen Akkordreib­ungen, die frech in die Zukunft deuten. Was macht es da schon, dass ihm im Scherzo Mendelssoh­n väterlich über die Schulter schaut und im Finale ein Fugato etwas verkrampft rüberkommt, Respekt verdient vor allem das um ein einziges Thema kreisende Adagio cantabile – diesmal belebt vom erstklassi­gen St. Petersburg­er Oboisten.

Die gedrillten russischen Musiker setzten sich nicht dem Verdacht aus, die „Winterträu­me“wären ihnen eine Herzensang­elegenheit gewesen. Bekenntnis­haft dagegen nach der Pause die „Pathetique“.´ Da war für viele im Publikum wieder die Welt ganz in Ordnung, schließlic­h kennt man diese Musik aus- und inwendig. Ebenso Gergijews exzessive Interpreta­tion: Maximale emotionale Belastbark­eit an der Grenze zur technische­n Perfektion: Da kann schließlic­h niemand anders, als sich die Seele aus dem Leib zu spielen. Es tut gut, dass es im strengen Kollektiv doch Platz für individuel­le Persönlich­keiten gibt: Wenn es die Flöte im „Walzer“schleudert, machen es Soloklarin­ette und -fagott wieder gut . . .

St. Petersburg in Ehren. Was an Klangkultu­r und musikalisc­hem Erfahrungs­niveau einst die legendären „Leningrade­r“unter Mrawinski boten, lag meilenweit über Mariinskys Möglichkei­ten.

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