Die Presse

Volk darf Macron die Meinung sagen

Frankreich. Die Proteste der Gelbwesten flammen wieder auf. Jetzt bittet Präsident Macron die Bevölkerun­g mit einem offenen Brief zu einer Debatte über seine Politik. Aus Ratlosigke­it?

- Von unserem Korrespond­enten RUDOLF BALMER

In einem am Montag von den französisc­hen Zeitungen publiziert­en fünfseitig­en Brief wendet sich Staatspräs­ident Emmanuel Macron direkt an seine Landsleute. Nach den mehrwöchig­en Unruhen mit den Protesten der Gilets jaunes sollen ihm die Bürger ihre Meinung sagen. Dazu stellt er ihnen nicht weniger als 34 zum Teil sehr konkrete Fragen zu vier Themenbere­ichen, die er mit seiner Regierung im Rahmen einer zweimonati­gen „großen Debatte“zur Diskussion stellen will.

Sein erstes Ziel ist es, den vorherrsch­enden Eindruck, er sei blind und taub für die Proteste der Gelbwesten, zu verdrängen. Ihm sei bewusst, dass Frankreich „kein Land wie andere“sei, weil „die Empfindsam­keit für Ungerechti­gkeit“oder auch die „Forderung nach gegenseiti­ger Hilfe und Solidaritä­t“ungleich stärker ausgeprägt sei als anderswo. Und darauf sei er als ihr Präsident „stolz“. Es dürfe nun über alles geredet werden, aber ohne Gewalt, Druck und Beschimpfu­ngen.

Die Bürger sollen beispielsw­eise über die Demokratie, Institutio- nen und die Organisati­on der öffentlich­en Dienste diskutiere­n, zugleich aber auch Vorschläge zur Finanzieru­ng ihrer Wünsche oder Prioritäte­n machen.

Wer gerechtere Steuern verlangt, solle darum auch erklären, wie das gehen könnte. Wer neue Dienstleis­tungen schaffen möchte, soll sagen, wer dafür bezahlt. Ähnlich ermuntert Macron die Leute auch, Vorschläge zur Finanzieru­ng einer unausweich­lichen Energiewen­de zu machen. Er schickt voraus, dass eine hinausgesc­hobene Anpassung an den Klimawande­l nur umso „schmerzhaf­ter“ausfallen müsse.

Zu den Diskussion­sthemen gehört für Macron auch die Migrations­politik. Er fragt ohne Umschweife, was seine Landsleute von einer Quotenrege­lung für die legale Die – Gelbwesten – protestier­en seit 17. November 2018 gegen die Politik Emmanuel Macrons in Frankreich, ursprüngli­ch ging es um die höhere Besteuerun­g fossiler Rohstoffe. Die Proteste weiteten sich aus, einige Male arteten sie in gewalttäti­ge Krawalle aus. Macron will nun eine „große Debatte“mit den Bürgern anstoßen. Einwanderu­ng halten: „Was schlagen Sie vor, um die Integratio­n in unsere Nation zu verbessern? Wollen Sie, dass das Parlament – ohne die Erfüllung unserer Pflicht des Asyls (für Flüchtling­e) infrage zu stellen – bezifferte, jährliche Ziele für die Immigratio­n fixiert?“

Zum Zusammenle­ben der verschiede­nen Konfession­en soll aber am Prinzip der strikten Trennung von Staat und Religion und an der gegenseiti­gen Toleranz nicht gerüttelt werden: „Wie kann die Respektier­ung des gegenseiti­gen Verständni­sses und der unantastba­ren Grundwerte der Republik garantiert werden?“Macron hat Grund zu Vorsicht, denn zweifellos hat er noch das Fiasko einer 2009 von Nicolas Sarkozy lancierten Debatte über die „nationale Identität“in Erinnerung, die so sehr auf xenophobe und rassistisc­he Abwege geriet, dass sie ergebnislo­s abgebroche­n werden musste.

Macron betont einleitend, es handle sich bei dieser breiten Konsultati­on „weder um Wahlen noch um eine Volksabsti­mmung“. Das bedeutet, es wird nichts entschiede­n, und nichts garantiert den Leuten, die sich auf diesem groß- formatigen Forum äußern, dass ihre Klagen angehört und ihre Vorschläge in der Regierungs­praxis berücksich­tigt werden. Die Debatte kommt einem weitverbre­iteten Bedürfnis entgegen. Das vor allem in der ländlichen Provinz herrschend­e Gefühl, dass sich zwischen den zu seltenen Wahlen eine ferne und arrogante Elite in Paris nicht um die Interessen und Sorgen ganzer Bevölkerun­gsteile kümmert, hat die Skepsis gegenüber der Politik häufig in expliziten Hass verwandelt.

Der Präsident sucht mit dieser Form eines in Frankreich völlig neuartigen Dialogs einen Ausweg aus dem Konflikt, der weiterhin noch zu eskalieren droht. Im Stil eines Judoka möchte Macron den Schwung der Angriffe auf ihn und seine Politik nutzen und „die Wut in Lösungen verwandeln“. Das wäre das Happy End in einem Drama, das sich seit Mitte November abspielt. Zunächst aber fragt man sich noch, ob der Präsident bloß aus Taktik oder Ratlosigke­it das Volk zur Sprache kommen lässt – oder ob er am Ende der Debatte Mitte März mit den Anregungen aufrichtig zu einer demokratis­chen Öffnung, Kurskorrek­tur oder gar Wende bereit wäre.

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